
Gleich zu Beginn ist klar, dass es keine leichte Lektüre werden wird. Denn da schildert der Ich-Erzähler Simon, wie es um seinen Bruder Vinzenz bestellt ist, der im Krankenhaus liegt: Gar nicht gut. Später die Diagnose: Glioblastom. Ein bösartiger Hirntumor. Gleichwohl ist Willi Achtens Roman „Die Einmaligkeit des Lebens“ sehr zu empfehlen. Ein starkes Stück Prosa, erschütternd und ermutigend zugleich, dem man sich schwerlich entziehen kann.
„Ohne meinen Bruder wäre ich verloren“
Erzählt wird abwechselnd auf zwei Zeitebenen. Im Jahre 1988 erleben wir die Brüder als Jugendliche. Sie sind Messdiener und Fußballfans im rheinischen Kirschrath, etwas näher dran am Bökelberg als am Müngersdorfer Stadion. Simon ist ein eigenwilliger Teenager, der sich in Martha verliebt und der aus Versehen der Judas-Figur am örtlichen Schnitzaltar den Kopf abbricht. Währenddessen ist Vinzenz, der Ältere, ein ums andere Mal darauf bedacht, den Bruder aus der Bredouille zu retten. Simon erkennt: „Ohne meinen Bruder wäre ich verloren.“ Es ist eine Zeit des Erwachens und Erwachsenwerdens.
Der zweite Strang führt ins Jahr 2017. Da erfährt Vinzenz, dass er einen Tumor im Kopf sitzen hat. Bald wird klar, dass er nicht mehr lange zu leben hat. Nun ist es Simon, der ihm beisteht. Er ist selbstredend kein Judas. Er kneift nicht in dieser furchtbaren Situation, sondern sitzt am Krankenbett des Bruders.
Zuspruch in der Not
Selbstverständlich ist das ein harter Lesestoff. Doch es gibt auch Balsam für die Seele. Was die Menschen rettet, das ist ihr Miteinander. So wie die Brüder zeitlebens zueinanderstanden, so steht am Ende Martha, die Jugendliebe, plötzlich wieder an Simons Seite. Und das nicht nur, weil sie ein Bestattungsunternehmen führt. Die frohe Botschaft: Es gibt Zuspruch in der Not.
Je weiter die Geschichte voranschreitet, desto fester packt sie zu. Zum ersten mit ihrer Dramatik! Diese ist der Unabweisbarkeit des Tumors geschuldet: den ersten „Aussetzern“ im Alltag, den Gesprächen mit dem medizinischen Personal, den Bitten des Bruders im Krankenhaus, seiner Frage: „Wie geht sterben?“ Zum zweiten sorgt die erzählerische Qualität für eine sich stetig steigernde Intensität. Willi Achtens Stärke ist der genaue Blick auf die hellen und die dunklen Seiten des Lebens. Zudem beherrscht er die Balance zwischen Trost und Trauer.
„Offen wie eine Wunde“
Wer sucht, der findet Parallelen zu vorangegangenen Romanen von Willi Achten. „Die wir liebten“ (2020) ist die Jugendgeschichte der Brüder Edgar und Roman in den 1970er Jahren; und „Rückkehr“ (2022) handelt von einer Jugendgruppe, die sich gegen ökologisch verwerfliche Auswüchse des Skitourismus wehrt. Der Umweltschutz hat auch diesmal seinen Platz im Text.
So verknüpft Willi Achten die Krankengeschichte effektvoll mit dem rheinischen Braunkohletagebau. Die Bevölkerung von Kirschrath wird – wie andere Gemeinden ebenso – mit der Umsiedlung konfrontiert. In diesem Fall nach Kirschrath-Neu. „Das Loch“, das vor ihren Augen gegraben wird, liegt „offen wie eine Wunde“. Das Baggermonstrum schaufelt die Landschaft weg so wie der Tumor das Leben von Vinzenz. „Raumgreifend“ ist eine Vokabel, die in beiden Bereichen eine zerstörerische Bedeutung hat.
Zufall und Schicksal
Der Roman hat eine philosophische Grundierung. Das kann kaum anders sein, wenn es um Leben und Tod geht, um Zufall und Schicksal. Allerdings werden die einschlägigen Aspekte nicht strapaziert, sondern dezent eingeflochten. „Wie lebte man mit der Gewissheit, eines Tages alles zu verlieren, was einem lieb war?“ fragt sich Simon. Und er fährt fort: „Ich legte mich aufs Sofa, zog die Decke bis zum Kinn, die Stille im Haus sprach, es half nichts, die Ohren zu verschließen.“
„Die Einmaligkeit des Lebens“ hat einen autobiographischen Kern, wie Willi Achten selbst erklärt hat. Sein Bruder ist an einem Gehirntumor verstorben. Ihm widmet er diesen Roman.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Willi Achtens Roman „Rückkehr“ HIER besprochen.
Die Premierenlesung
findet am 7. März um 19.30 Uhr in Aachen im Theatersaal der Barockfabrik statt. Weitere Lesungen in Bielefeld (11. 3. 2025), Simmerath (14. 3.), Süchteln (15. 3.), Brüggen (4. 4.) und Wasserberg (9. 4.). Die Lesereise geht danach weiter.
Willi Achten: „Die Einmaligkeit des Lebens“, Piper, 224 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19.99 Euro.
