
Das Telefonat dauerte nur drei Minuten. Aber die hatten es in sich. An dem einen Ende der Leitung: der Dichter Boris Pasternak (1890-1960). An dem anderen: der sowjetische Diktator Josef Stalin (1878-1953). „Es gibt wohl kein Telefonat“, meint Ismail Kadare, „über das so viel gesprochen und geschrieben wurde.“ Dazu hat er einige „Untersuchungen“ angestellt, die 2018 auf Albanisch erschienen sind und nun in der Übersetzung von Joachim Röhm vorliegen.
Die vielen Versionen
In „Der Anruf“ geht der Autor, der im vergangenen Jahr verstorben ist, zahlreichen Versionen nach, die über das kurze Gespräch vom 23. Juni 1934 in Umlauf sind. Einen Mitschnitt gibt es nicht. Wohl aber zahlreiche Darstellungen. Zum einen ist eine Dokumentation des KGB in Umlauf. Zum anderen gibt es die Erinnerungen von Zeitgenossen daran, was Pasternak erzählte, nachdem er den Hörer aufgelegt hatte. Ein ums andere Mal läuft es einem kalt über den Rücken, wenn Joseph Stalin seinen vernichtenden Satz sagt – in welcher Variante auch immer.
Doch worum geht es? Ossip Mandelstam (1891-1938) ist der Anlass für den Anruf. Er hatte ein wütend-verzweifeltes Spottgedicht auf Stalin verfasst, in dem es unter anderem heißt: „Wie Himbeeren schmeckt ihm das Töten“. Nachdem der Dichter sein Werk im privaten Kreis vorgetragen hatte, wird er 1934 „in die Lubjanka eingeliefert, verhört und wahrscheinlich gefoltert.“
Das abrupte Ende
Dann der Anruf. Kaum hat Stalin den Hörer aufgenommen, überfällt er Pasternak mit der Frage, was er über Mandelstam sagen könne. Der reagiert defensiv und meint, er wisse nur wenig über ihn. Darauf verpasst ihm Stalin eine verbale Ohrfeige. Er wirft ihm vor, nichts zur Verteidigung des Kollegen vorzubringen. Was er denn für ein Genosse sei! Ende des Telefonats. Sogleich versucht Pasternak zurückzurufen. Jedoch – im Kreml kein Anschluss unter dieser Nummer.
In jeder Version klingt der Dialog anders. Aber unberührt bleibt der Kern, nämlich Stalins Vorwurf: Pasternak habe Mandelstam im Stich gelassen. Ismail Kadare meint, dass es dem Diktator damit gelungen sei, einen Keil zwischen das berühmte „Poetenduo“ zu treiben. Um der Geschichte auf den Grund zu gehen, nimmt sich der Autor eine Überlieferung nach der anderen vor. Die der Ehefrau Sinaida Nikolajewna Pasternak oder der Geliebten Olga Iwinskaja, die der Nadeschada Mandelstam oder der Dichterin Anna Achmatowa, „der berühmtesten aller Zeuginnen und Zeugen.“
Willkür und Angst
Aus diesem Zusammenschnitt entwickelt sich ein Schreckensbild der Sowjetunion zur Stalinzeit. Es handelt von der Willkür und der Angst. Von den Psychotricks des Tyrannen und von der Lebensgefahr, die in einem Terrorstaat ein offenes Wort zur falschen Zeit bedeuten kann. Die Erfahrungen, die Ismail Kadare selbst im kommunistischen Albanien gemacht hat, sind eine beklemmende Ergänzung.
Die Kunst in Zeiten der Unterdrückung – das ist ein immer wieder so erschütterndes wie faszinierendes Kapitel der Menschheitsgeschichte. Ismail Kadare zeigt eindrucksvoll, dass ein Telefonat von drei Minuten ausreicht, um die Hölle der Diktatur vor Augen zu führen.
Martin Oehlen
Ismail Kadare: „Der Anruf“, dt. von Joachim Röhm, S. Fischer, 174 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Ich bin schon gespannt darauf.
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Nur zu! Es lohnt sich. Herzliche Grüße, P.
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