Das Kraut für die Ahnen, der Limoncello für alle: Bei der Jubiläumsausgabe der Poetica in Köln präsentieren Autorinnen und Autoren ihre Mitbringsel

Dies ist nur die eine Hälfte des Podiums: Sjon mit Tasse (von links nach rechts), Claudia Rankine, Jan Wagner und Sergio Raimondi. Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Ein großes Überraschungspaket – das war der „Living-Room für bedingungslose Freundlichkeit“, in den die zehnte Poetica am Donnerstag eingeladen hatte. Im Neuen Senatssaal der Universität zu Köln präsentierten die Dichterinnen und Dichter ihre Mitbringsel. In der Regel waren es handfeste Objekte. Das Format hatte sich bereits bei der neunten Poetica im vergangenen Jahr bewährt. Nur diesmal funktionierte es noch besser. Denn die Teilnehmenden der Runde, die von Monika Rinck moderiert wurde, waren entschieden dazu bereit, sich auf die Geschichten der anderen einzulassen. Da wurde gestaunt und gelacht – und als die Japanerin Hiromi Ito die Episode erzählte, wie die Asche eines Verstorbenen in eine Kaffeemühle geraten ist, konnte sich Radna Fabias, die Niederländerin aus Curaçao, kaum noch auf dem Stuhl halten.

Becher der Gastfreundschaft

Nein, das hatte nichts mit dem Limoncello zu tun, der zwischendurch ausgeschenkt wurde. Immerhin gab es jeweils nur ein kleines Gläschen. Der Argentinier Sergio Raimondi hatte ihn aus seiner Heimat mitgebracht. Zwei tiefgelbe Flaschen aus dem Hause eines Freundes in Bahia Blanca. Damit verband der Autor Anmerkungen zum Akt des Öffnens und des Einschenkens, zum Weg der Zitrusfrucht von Asien in die Welt, zu Identität und Transformation. Und auch zur Gastfreundschaft. Denn „Hospitality“ ist ja der Zentralbegriff des Festivals.

Der Isländer Sjon nahm seinen Limoncello aus dem mitgebrachten Becher. So ein Becher, sagte er, sei bestens geeignet zur Kontaktaufnahme. Man könne sich einschenken lassen und man könne ihn weiterreichen, er biete sich an zum Kochen und sogar als Musikinstrument. Für Sjon ist der Becher eine Metapher für Gastfreundschaft. Dabei räumte er ein, dass diese Metapher bei ihm noch in Arbeit sei. Vielleicht werde daraus sogar noch ein Gedicht.   

Den Kochtopf füllen

Was Gastfreundschaft im Kongo bedeutet, machte der in Österreich lebende Fiston Mwanza Mujila deutlich. Dabei rührt der Witz aus dem Vergleich der Kulturen. Wer im Kongo zu Besuch komme, bringe gerne Freunde und Verwandte mit, weshalb es sich empfiehlt, immer einen großen Kochtopf aufs Feuer zu stellen. Der war dann auf der Leinwand zu sehen. Diesen Hinweis gab es zudem: Ein Gast, der womöglich um eine Stunde verspätet eintreffe, sei dennoch herzlich willkommen. Denn Gastfreundschaft bedeute auch, Zeit zu haben.

Radna Fabias hätte gerne ein Foto ihrer Großmutter Annamaria mitgebracht. Doch die habe sich nicht gerne fotografieren lassen. Sie gehörte zum engsten Kreis der Autorin. Und Kreise oder Zirkel sind es, die ihr besonders wichtig sind. Sie empfiehlt, den Kreis der Verbündeten nicht zu groß zu machen. Aber denen, die sich in diesem Kreis befinden, sollte man generös begegnen. In diesem Kreis herrsche Sicherheit und Vertrauen. „Wer immer in diesem Zirkel ist, weiß, dass er nicht allein ist.“ Die Großmutter, sagte Radna Fabias, sei immer in ihrer Nähe. Auch ohne Foto.

Kontakt zu den Verstorbenen

Zum intensiven Kontakt mit den Ahnen bekannten sich gleich drei Gäste der Poetica. Nicht nur Radna Fabias. Auch Fiston Mwanza Mujila, der die Verstorbenen seiner Familie immer um sich weiß. Wenn er ein Problem habe, sagte er, rede er mit seinem verstorbenen Vater; und wenn es sehr ernst sei, dann mit Gott. Die Dritte im Bunde ist Lebogang Mashile aus Südafrika. Sie lädt die Ahnen ein ums andere Mal ein. Dafür eignet sich offenbar in besonderer Weise eine Pflanze, die die Autorin in getrockneter Form mitgebracht hatte. Man müsse sie nur entzünden, und schon stehe die Verbindung. Freunde von ihr nennen das Gestrüpp auch „WiFi“.

Englisch ist bei der Poetica, diesem einwöchigen „Festival für Weltliteratur“, die vorherrschende Sprache. Aber auf der Bühne ist auch Deutsch, Spanisch und Französisch zu vernehmen. Und weitere Sprachen sind im privaten Dialog zu hören. Es sei für sie das Sinnbild von Gastfreundschaft, so stellte es Sasha Marianna Salzmann dar, „wenn wir verschiedene Sprachen im Raum haben.“ Das Lied, das auf ihren Wunsch eingespielt wurde, bestätigte diese Schönheit der Vielsprachigkeit: Daniel Kahns deutsch-jiddisch-englische Version von Franz-Josef Degenhardts „Die alten Lieder“.

Sasha Marianna Salzmann (links) und Hiromi Ito Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Stein der Erinnerung

So ging es herrlich weiter. Jan Wagner hielt einen Stein hoch von der Küste Irlands, wo Matthew Sweeney lebte, dessen Werk er übersetzt hat. Nie habe er den Freund zu Lebzeiten dort getroffen, immer woanders; der Stein, den er nun herumreichte, sei aus dem Material, aus dem auch Sweeneys Grabstein geschnitten sei. Da sei alles drin geborgen. Die US-Amerikanerin Claudia Rankine hatte mit einer Pflanze geplant, aber dann aufgrund der Kälte darauf verzichtet. Stattdessen zeigte sie eine aus Corona-Zeiten vertraute Maske, um daran zu erinnern, dass zur Gastfreundschaft auch Verantwortung gehöre: Corona habe sie bekommen, weil ein heftig Hustender in einer Veranstaltung nicht wahrhaben wollte, dass er eine Virenschleuder war. Und die muntere Hiromi Ito zeigte kontemplativ stimmende Fotografien von Bäumen, Stämmen und Blättern. In einem Fall, so meinte sie, lasse das Motiv an den Kölner Dom denken.

Gleichsam als Schlusswort trug Monika Rinck, Professorin für literarisches Schreiben an der Kunsthochschule für Medien in Köln, ein Gedicht der ungarischen Lyrikerin und Übersetzerin Orsolya Kalász vor: „Die Sprache gibt den Löffel ab!“ Davon allerdings konnte bei diesem Potpourri der Gastgeschenke und Geschichten überhaupt keine Rede sein.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über die Eröffnung der 10. Poetica HIER berichtet.

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„Poetica 10“, herausgegeben von Günter Blamberger, Uljana Wolf und Michaela Predeick, konkursbuch Verlag, 218 Seiten, 15 Euro.

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