
Marie-Claire Sturm, die Radiomoderatorin mit dem eingängigen Kürzel MC, ist 39 Jahre alt. Was ja kein Alter ist. Oder doch? Nach einem Besuch bei ihrer Frauenärztin ist sie erschüttert. Denn Dr. Nonnenmacher teilt ihr mit froher Miene mit: „Sie hatten fünfundzwanzig Jahre Zeit, Mutter zu werden, sehen Sie’s mal so. Das ist ein Vierteljahrhundert.“
„Werde ich jetzt dafür bestraft?“
Schon verfügt Marie-Claire über einen weiteren Satz, mit dem sie sich „terrorisieren“ kann. Neben Sätzen wie diesen: „Ich habe versagt. Ich habe mich verzockt. Ich habe es verpennt, verpeilt, verkackt. Das Einzige, wozu ich hier auf dieser Welt bin, habe ich nicht gebacken gekriegt. Ich habe meine Lebenszeit verplempert. Warum ist mir nicht früher aufgefallen, dass ich unter Zeitdruck stehe? Dass ich die einzige wichtige Deadline meines Lebens im Blick hätte haben müssen? Was habe ich die ganzen letzten Jahre über gemacht? Bin ich dümmer als andere? Werde ich jetzt dafür bestraft?“
Jackie Thomae, geboren 1972 in Halle, hat 2015 den Roman „Momente der Klarheit“ veröffentlicht; die Lydia aus diesem Debüt taucht in „Glück“ erneut auf, „weil ich die mochte“. Mit „Brüder“ stand sie auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2019; außerdem war der Roman im Jahre 2021 das „Buch für die Stadt“ in Köln und der Region (HIER). Nun legt die Autorin mit „Glück“ einen – so die Verlagsankündigung – „Roman über Frauen unter Druck“ vor, „über die Phase im Leben, in der sie zu alt sind, um noch länger warten zu können, und zu jung, um es hinter sich zu haben.“
Eine Pille zur Entspannung
Dass diese Phase des Zweifelns nicht in Schwarz und Weiß aufgeht, sondern dass es dazu sehr viele Sichtweisen gibt, wurde nun auch im pickepacke vollbesetzten Literaturhaus Köln deutlich. Dort sprach Jackie Thomae mit Anne Burgmer, der Leiterin des Kultur-Ressorts beim „Kölner Stadt-Anzeiger“, über die Neuerscheinung.
Attraktiv ist die Lektüre nicht zuletzt deshalb, da Jackie Thomae keinen Novemberblues anstimmt. Auch zaubert sie eine überraschende Pille hervor, die für Entspannung sorgen kann. So ist ihr Roman über Mutterschaft oder Kinderlosigkeit ebenso vielschichtig wie amüsant. Das galt auch für die Vorstellung des Buches. Der Dialog war nicht nur unterhaltsam, sondern auch lehrreich. Was hat das deutsche Mutterbild geprägt, wie wandelt es sich gerade in Italien? Und wissen schon alle, dass man statt „kinderlos“ mittlerweile „kinderfrei“ sagen kann?
Blick auf die „Childless Cat Lady“
Eine zusätzliche Aktualität hat der Roman jüngst durch den amerikanischen Wahlkampf erhalten. Vizepräsidentschaftskandidat J. D. Vance hatte Kamala Harris einst als „Childless Cat Lady“ bezeichnet – eine Bemerkung, die nun neue Brisanz erhalten hat. Die hellste Reaktion war das Solidaritäts-Posting von Taylor Swift. Sie unterzeichnete ihr Bekenntnis zu Kamal Harris mit „Taylor Swift – Childless Cat Lady“.
Diese Vokabel kam auch in Jackie Thomaes Manuskript vor, lange vor der in diesem Herbst hochkochenden Debatte. Allerdings habe ihr gemeinhin großartiger Lektor die Cat Lady/Katzenfrau aus dem Text gestrichen. Das ist Künstlerpech. Doch dem Glück, das der reiche Roman beschert, tut dies keinen Abbruch.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
sind wir ausführlich auf den Roman „Brüder“ (HIER) eingegangen – und zwar anlässlich der Matinee zum „Buch für die Stadt“ im Schauspiel Köln.
Jackie Thomae: „Glück“, Claassen Verlag, 432 Seiten, 24 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Klingt sehr spannend.
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Ist es auch – spannend, klug, unterhaltsam.
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Oh, das Thema kommt mir bekannt vor. Klingt lesenswert.
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