Schreiben in Zeiten des Krieges: Maria Stepanova schildert in „Der Absprung“ eine Schriftstellerin, die aus der Zeit fällt

Maria Stepanova Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Die Schriftstellerin M., die aus Russland stammt und in Deutschland lebt, ist auf dem Weg zu einem Literaturfestival in Skandinavien. Allerdings wird sie dort nie ankommen. Denn erst fällt ein Anschlusszug wegen eines Streiks im Nachbarland aus. Dann klappt es nicht mit dem kurzfristig arrangierten Limousinen-Service. Schließlich verabschiedet sich der Akku ihres Smartphones. Nun sitzt die Schriftstellerin also in der Stadt F. fest, die so beschrieben wird, als handele es sich um Flensburg.

„Als wäre nichts geschehen“

Das war im Sommer 2023. Da wuchs das Gras weiter, wie wir gleich im ersten Satz erfahren, „als wäre nichts geschehen“.

Doch es war etwas geschehen. Das Heimatland der Schriftstellerin hatte ein anderes Land überfallen. Jetzt ist das „Untier“ los. Damit ist keine Einzelperson gemeint, also auch nicht der russische Präsident Wladimir Putin. Vielmehr ist es das Böse schlechthin, das im Krieg zum Ausdruck kommt, den Russland in der Ukraine führt. Häufig wird die Schriftstellerin M. auf dieses „Untier“ in ihrer Heimat angesprochen – und da ergeht es ihr gewiss wie Maria Stepanova, die 1972 in Moskau geboren wurde, in Deutschland lebt und nun den wunderbaren Roman „Der Absprung“ geschrieben hat.

„Wie eine Wäscheklammer im Kopf“

Weil die Geschichte der Schriftstellerin M., die ihr Land aus der Distanz wahrnimmt und in der Fremde dessen Verhalten erklären soll, sehr an die Situation von Maria Stepanova erinnert, ist der autofiktionale Gehalt des Romans nicht gering. Von den großen und den kleinen Dingen handelt er mit Poesie, Witz und Tiefe. Maria Stepanova erzählt mit einem weinenden und einem lachenden Auge. Ihre Heldin ist verunsichert und erschöpft, aber nicht verzagt und auch nicht bar jeder Hoffnung.

Der Schriftstellerin M. kommt das zunächst unfreiwillige und dann bereitwillig ausgedehnte Aus-der-Zeit-Fallen in der Stadt F. sehr zupass. Eine willkommene Atempause. M. steigt aus ihrer Rolle als Schriftstellerin (und Russland-Deuterin) aus und fühlt sich befreit von den Verpflichtungen, von denen jede einzelne „wie eine Wäscheklammer im Kopf“ festklemme. Plötzlich ist sie „zweck- und planlos“ unterwegs. Den neuen Freiraum nutzt sie, um einen Mann mit Haarklammern kennenzulernen und mit ihm einen Escape Room aufzusuchen. Auch lässt sie sich im Zirkus Cohn als „Zersägte Jungfrau“ anwerben.

Das „Untier“ ist nah

Wer mit diesem Auftritt in der Manege den Riss im Leben der Schriftstellerin M. in Verbindung bringt, liegt sicher nicht falsch. Wie überhaupt schnell klar wird, dass das „Untier“ aus vielen Winkeln hervorlugt. Sogar fern von jenem Revier, in dem es zuhause ist. Da reicht ein Hotelname an der deutschen Küste, um an die Unterdrückung in Russland zu erinnern, oder ein Zirkuszelt, um die Bilder eines alten Propaganda-Films für die Sowjetunion aufflackern zu lassen.

Der Roman, der gelegentlich in die Ich-Perspektive wechselt, ist beeindruckend dicht geschrieben. Da weiß man um die Lyrikerin in der Erzählerin, die 2023 für ihren Gedichtband „Mädchen ohne Kleider“ den „Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung“ erhalten hat. Keine Zeile, in der die Lesenden zum gedanklichen Abschweifen verleitet würden. Vielmehr bleiben wir auf sehr angenehme Weise am Haken.

„Schreib! Dein! Buch!“

Olga Radetzkaja hat den Roman geschmeidig aus dem Russischen übersetzt. Fast meint man, das Vergnügen bei der Arbeit spüren zu können. So erfreut die Spekulation, ob das im Zug vergessene Sandwich „einen Esser nach seinem Geschmack gefunden“ habe; oder es gefällt das so bildkräftige Adjektiv beim „Brunnen mit windschiefem Wasserstrahl“.

Alltagsbeobachtungen werden von Maria Stepanova treffsicher aufgespießt. Sei es die neue Fremdsprache, in der ein „gerne“ noch derart frisch klingt, als drücke sich darin aufrichtige Zuneigung aus. Sei es das Öffnen einer Brötchentüte im vollbesetzten Zug. Sei es der plakatierte Hinweis „Schreib! Dein! Buch!“ So ein dreifaches Ausrufezeichen registriert eine Schriftstellerin, die gerade nichts schreibt, mit besonderer Anteilnahme.

„Kerben im Türstock“

Ja, dies ist auch ein Buch über das Schreiben. Allerdings ohne die allzu vertrackten Doppelbödigkeiten einer Literaturliteratur. Einmal sagt M., und vielleicht sagt es auch Maria Stepanova, sie verstehe unter ihrer Arbeit „weniger ihre schriftstellerischen Aktivitäten (die waren eher so etwas wie die Kerben im Türstock, mit denen man das Wachstum eines Kindes dokumentiert) als vielmehr das Denken, Verstehen und Schlussfolgern.“ Sie hoffe, dass diese Fähigkeiten im Laufe der Jahre zunehmen, so dass in absehbarer Zeit „wohl etwas Vernünftiges“ aus ihr werden könne.

Das ist natürlich nichts als Koketterie. Denn „vernünftig“ ist das alles allemal, was sie zu bieten hat. Außerdem wissen wir: Die Schriftstellerin M., die auch als „Zersägte Jungfrau“ Karriere machen könnte, kennt sich mit Zaubertricks aus.  

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir über Maria Stepanovas Auftritt bei der „Poetica“ in Köln HIER berichtet.

Lesungen

mit Maria Stepanova in Leipzig (heute, am 22. 10. 2024), in Berlin (25. 10. 2024) und in Essen (22. 1. 2025).

Maria Stepanova: „Der Absprung“, dt. von Olga Radetzkaja, Suhrkamp, 144 Seiten, 23 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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