
Kurz und knackig ist das Porträt, das Tash Aw von seiner Familie zeichnet. Allerdings ist es ein Porträt, das seine Leerstellen nicht verheimlicht. Denn der Autor, der schon einige Romane veröffentlicht hat, weiß nicht sehr viel über seine Eltern, deutlich weniger über seine Großeltern und praktisch nichts über seine Urgroßeltern. Er wurde 1971 in Taiwan geboren als Kind malaysischer Eltern, die ihrerseits China wegen „der erdrückenden Armut“ verlassen hatten. Wenn es um Persönliches gehe, schreibt Tash Aw, gebe man in seiner Familie nicht viel preis: „Schwäche oder Traurigkeit gestehen wir nicht ein.“ Die Suche nach der eigenen Identität ist unter diesen Bedingungen kein leichtes Unterfangen.
Das Prinzip Verdrängung
Die Verschwiegenheit hat ihren Grund in der Tradition. Unter Chinesinnen und Chinesen sei es nahezu verpönt, lesen wir, über die Vergangenheit zu reden. Vielmehr gelte es als angemessen, sich der Zukunft zu verschreiben – dem allgemeinen Fortschritt und dem persönlichen Fortkommen. Alles andere sei rückwärtsgewandt. Zumal dann, wenn es um „Schandflecken“ gehe.
Das Prinzip Verdrängung werde auch auf „nationale Narrative“ angewendet: „Wir (…) löschen schwierige Beziehungen und ganze Abschnitte unserer Geschichte, die uns unangenehm sind.“ Nur wenn die Ereignisse weit zurückliegen, kommen sie in Filmen und Büchern zur Sprache, denn dann seien sie nicht mehr bedrohlich. Warum das? Der Grund des Verhaltens liege wohl in der „Scham“.
Anrufung der Großmutter
Der Band „Fremde am Pier“ ist zweigeteilt. Zunächst geht es darum, grundsätzliche Anmerkungen über Fremdheit und Zugehörigkeit im Asiatischen loszuwerden. Danach widmet sich Tash Aw der Biografie seiner Großmutter. Sie führte ein Leben in sehr bescheidenen Verhältnissen – mit Analphabetismus und Heiratsvermittlung. Der Text hat hier zuweilen die Anmutung einer Anrufung: „Ich kann mich nicht erinnern, dass du jemals über dich gesprochen hättest: ob du glücklich oder traurig über etwas in deiner Familie oder im Dorf warst – du hast dich immer nur für das Wohl der anderen interessiert.“ All dies aufschreibend, widersetzt sich Tash Aw selbstredend der traditionellen Regel, nicht zurückzublicken. Er setzt seine eigene Regel dagegen: „Wir müssen dafür sorgen, dass die Dinge für immer bleiben.“ Klar ist – zwischen dem Intellektuellen und seinen Ahnen klafft eine Lücke.
„Fremde am Pier“ ist eine anregende Erzählung über Moderne und Tradition, Fremdheit und Immigration, Identität und Erinnerung. Es wird keine Lehrveranstaltung abgehalten, sondern am eigenen Leben entlang reflektiert. Das angenehm locker gehaltene Memoir passt bestens in eine Welt, in der die interkulturellen Verflechtungen eng und enger werden. Der Autor selbst ist dafür ein blitzendes Beispiel. Tash Aw versteht sich als Malaysier und Chinese zugleich, arbeitet für die „New York Times“ und die BBC. Und laut Klappentext lebt er „vorwiegend“ in der Provence.
Martin Oehlen
Buchpremiere
im Rahmen des Internationalen Literaturfestivals Berlin am 11. September 2024 um 18.30 Uhr im Haus der Berliner Festspiele. Moderation: Yannic Han Biao Federer, deutsche Lesung: Renato Schuch.
Tash Aw: „Fremde am Pier – Porträt einer Familie“, dt. von Pociao und Roberto de Hollanda, Luchterhand Verlag, 126 Seiten, 22 Euro. E-Book: 17,99 Euro.
