
Die Fallhöhe ist enorm. Der einst großmächtige Kaiser Karl V. (1500-1558), in dessen Reich die Sonne niemals unterging, reitet auf einem Maultier und nicht auf einem Schimmel durch Spanien, bettet sein Haupt auf einen Strohsack und liefert sich eine Schlägerei mit einem Gastwirt. So steht’s geschrieben in „Reise nach Laredo“, dem neuen Roman von Arno Geiger.
Sehnsucht nach der Klosterruhe
Zuletzt hatte der österreichische Autor in „Das glückliche Geheimnis“ (HIER) von seiner Jagd nach stimulierenden Tagebüchern, Briefen und anderen privaten Dokumenten erzählt, welche als Abfall entsorgt worden sind. Doch seine jüngste Geschichte stammt nicht aus einem Papiercontainer. Vielmehr hat Arno Geiger die historischen Fakten, wie sie uns überliefert sind, fantasievoll aufgepeppt. Möglicherweise hat er zur Vorbereitung noch einmal seine Wiener Diplomarbeit von 1993 durchgeblättert: „Die Bewältigung der Fremde in den deutschsprachigen Fernreisetexten des Spätmittelalters“. Das Ergebnis all dessen: eine Lesefreude.
Der Startpunkt des Romans liegt im spanischen Cuacos de Yuste westlich von Madrid. Dorthin hatte sich Karl V. mit kleinem Hofstaat zurückgezogen, nachdem er 1555 in Brüssel seine Abdankung verkündet hatte. In der Einsamkeit des Klosters will der ewig umtriebige Mann, der zum Machterhalt quer durch Europa hetzte, zur Ruhe kommen.
Gicht und Übergewicht
Körperlich ist er nicht gut beieinander, und auch die Psyche ist angegriffen. Er leidet an Gicht und Übergewicht, ist erschöpft vom Amt und scheint vom Leben nichts mehr zu erwarten. Ein Fieber schüttelt ihn zudem (was in der Forschung als Malaria-Erkrankung diagnostiziert wurde). Dann hat er einen Traum.
Der Roman verlässt nun das Präsens, in dem die Rahmenhandlung erzählt wird, und wechselt in die Vergangenheitsform. Da erfahren wir, wie der Kaiser a. D. mit dem elf Jahre alten Geronimo nächstens flieht. Raus aus dem Kloster, aus der Monotonie, aus der ständigen Beobachtung, aus dem alten Leben. Bei dem Jungen handelt es sich um ein uneheliches Kind des Kaisers, das davon aber nichts weiß. Erst nach Karls Tod wird Geronimo aus Regensburg offiziell anerkannt und macht als Juan de Austria (1547-1578) Karriere – doch das ist eine andere Geschichte.
Das Schicksal der Cagots
Die Reise konfrontiert Karl ein ums andere Mal mit der anderen Seite der Wirklichkeit. Nicht dass sein Herrscherleben arm an Konflikten gewesen wäre. Aber diese erfuhr er als mächtigster Mensch auf Erden. Nun macht er den Realitätscheck als einfacher Reisender. Er sucht eine heilkundige Frau auf, verliert viele Dukaten beim Kartenspiel und schießt einem Wutbürger die himbeerfarbene Mütze vom Kopf.
Vor allem befreit er ein Geschwisterpaar aus höchster Gefahr: Honza und Angelita gehören zur Bevölkerungsgruppe der Cagots, die über Jahrhunderte hinweg verfolgt wurde und Gänsefüße als Kennzeichen an ihrer Kleidung tragen musste. Nach der Rettung reisen Bruder und Schwester eine Weile mit dem Kaiser a. D., der nach Laredo ans Meer möchte.
Peru, Tizian und der Uhrentick
Was Karl imponiert, sind die Alltagsfreuden des Jungen, seines Sohnes also, den er aber nicht wissen lässt, wie es um ihre Beziehung steht. Im Grunde entdeckt der Kaiser auf dieser Traumreise die Einfachheit. Die Kostbarkeit des Augenblicks. Eine Art von Freiheit. Doch dann ist der Traum vorbei – und Karls letzte Nacht verstreicht.
Der allwissende Erzähler, für den sich Arno Geiger entschieden hat, rückt die Historie nicht grell, sondern dezent ins Licht; die einschlägigen Anspielungen wirken nicht angestrengt, sondern angenehm abgefedert. Dazu zählen die tiefe Religiosität des Katholiken und der markante Unterkiefer des Habsburgers, die Fehlschläge bei der Befriedung des europäischen Kontinents und die Eroberung Perus, Gesprächsfetzen aus Begegnungen mit Dürer und Tizian, der Uhrentick und anderes mehr.
„Wie eine Mutter, die Branntwein trinkt“
Stilistisch irritiert allenfalls manch vertrackte Metapher – etwa die vom Fieber, das „kam und ging wie eine Mutter, die Branntwein trinkt, wie ein halbzahmer, manchmal zum Haus schleichender Fuchs“. Auch fällt die Fülle an schlichten Lebensweisheiten auf: „Besser Stroh am Rücken als im Kopf.“ Oder so: „Je mehr es geregnet hat, desto wahrscheinlicher, dass es wieder aufhört.“ Noch eine? Bitte: „Wenn die Erwachsenen einander belauern, bleiben die Kinder unbeachtet.“ Aber was kann schon der Autor dafür, wenn seine Figuren so reden!
„Reise nach Laredo“ von Arno Geiger ist ein farbiger, berührender, kraftvoller Roman. „Plus ultra“ lautete das historische Motto von Kaiser Karl V. Mit anderen Worten: Mehr davon.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir von Arno Geiger zuletzt den Roman „Das glückliche Geheimnis“ HIER vorgestellt.
Die Buchpremiere
findet an diesem Donnerstag (29. August 2024) im Museumsquartier in Wien statt. Nachfolgende Auftritte gibt es in Frankfurt am Main (11. 9.), beim Rheingau Musik Festival in Oestrich-Winkel (12. 9.), Salzburg (16. 9.), München (17. 9.), Stuttgart (18. 9.), Karlsruhe (19. 9.), Hamburg (24. 9.), Hannover (25. 9.), Koblenz (26. 9.), Linz (28. 9.), Graz (1. 10.), Gleisdorf (2. 10.), Schlierbach (3. 10.), Innsbruck (4. 10.), Bregenz (8. 10.), Köln (9. 10.), Essen (10. 10.), Düsseldorf (23. 10.), Göttingen (24. 10.) sowie im November und Dezember an zahlreichen weiteren Orten.
Arno Geiger: „Reise nach Laredo“, Hanser, 272 Seiten, 26 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
