
Hoffnung ist in aller Munde. Nicht nur bei den Demokraten in den USA wird vom „Comeback of Hope“ gesprochen. Überhaupt ist die Zahl der aktuellen Sorgen so groß, dass mit ihrem Anstieg auch das Quantum an Hoffnung wächst. Auf dass die Zeiten besser werden! Jonas Grethlein formuliert es in seiner Geschichte der Zuversicht, die jetzt bei C. H. Beck erscheint, mit diesen Worten: „Hoffnung hat in der Polykrise der Gegenwart Hochkonjunktur.“
„Auch bei denen, die nichts haben“
Der Altphilologe von der Ruprecht-Karls-Universität in Heidelberg schreitet einen großen Bogen ab – von den Göttern der Antike bis zu den Umweltaktivisten der Gegenwart. Das wohl älteste Zeugnis stammt vom griechischen Philosophen Thales aus dem 6. Jahrhundert vor Christus. Er soll auf die Frage, was die Menschen am meisten verbinde, geantwortet haben: „Die Hoffnung. Denn sie ist auch bei denen, die nichts haben.“
Der Autor versteht die Hoffnung als momentane Unverfügbarkeit: „Gerade weil wir etwas nicht aus eigener Kraft erreichen können, hoffen wir.“ Sie unterscheidet sich vom Wünschen dadurch, dass das Ziel erreichbar scheint. Auf seinem Gang durch die Geschichte macht Jonas Grethlein überall dort Halt, wo die Hoffnung als „Weltverhältnis“ deutlich wird.
„Das Handeln beginnt“
Dabei konzentriert er sich auf theoretische und literarische Texte des westlichen Kulturkreises – aus rein pragmatischen Gründen. Denn allein diese Tradition nachzuzeichnen, schreibt er, komme nicht ohne Über- und Unterbelichtungen aus. Schon klar: Lücken sind möglich. Gleichwohl ist das Schaufenster sehr gut gefüllt.
Die Hoffnung ist keine zweifelsfreie Größe. Unstrittig ist für viele, dass sie selbst in scheinbar aussichtloser Situation Kraft verleiht. Aber nicht selten wird auch Kritik laut, wonach die Hoffnung dazu verleite, sich zurückzulehnen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Als aktuelles Beispiel wird die Losung der Gruppe „Extinction rebellion“ angeführt: „Die Hoffnung stirbt, das Handeln beginnt.“
„Trotzdem Ja zum Leben sagen“
Besonders eindrucksvoll sind freilich die Anmerkungen zum Prinzip Hoffnung unter den Verfolgten der NS-Zeit. Jonas Grethlein macht mit den kontrapunktischen Erfahrungen von zwei Autoren bekannt, die beide die Hölle der Konzentrationslager überlebt haben. Für den Psychiater Viktor Frankl (1905-1997), lesen wir, „war das Hoffen der Schlüssel zum Überleben im Lager.“ Wie diese gewirkt hat, beschreibe er in seinem Buch „…trotzdem Ja zum Leben sagen“. Hingegen bezeichnete der polnische Schriftsteller Tadeusz Borowski (1922-1951) die Wirkung der Hoffnung als verheerend: „Die Hoffnung ist es, die den Menschen befiehlt, gleichgültig in die Gaskammer zu gehen; die sie davon abhält, Aufruhr zu planen; Hoffnung macht sie tot und stumpf.“
Der Gang durch die „Geschichte der Zuversicht“ ist durchweg stimulierend. Die vielen Fundstücke aus mehr als 2000 Jahren, vom Autor differenziert eingeordnet, sind eine stete Freude. Vom Jenseits-Glauben der Kirchenväter zum sehnsüchtigen Flehen im Minnesang, von der Aufklärung zur Moderne. Einer der schönsten Sprüche ist zugleich einer der ältesten: „Dum spiro spero“, hieß es im alten Rom, „Solange ich atme, hoffe ich“.
Leibniz-Preisträger 2024
Jonas Grethlein hat im Frühjahr 2024 – gemeinsam mit weiteren Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern – den Leibniz-Preis erhalten, den bedeutendsten Forschungspreis in Deutschland. Zuletzt war von ihm der autobiographische Bericht „Mein Jahr mit Achill – Die Ilias, der Tod und das Leben“ (2022) erschienen. Auslöser dafür war die Diagnose, die ihm kurz nach seiner Habilitation (2005) mitgeteilt wurde: Blasenkrebs – „mit einer Chance, die nächsten zehn Jahre zu überleben, von nur 17 Prozent“, wie bei Wikipedia geschrieben steht.
Welche Bedeutung die Hoffnung für den Privatmann Jonas Grethlein hat, also ganz persönlich, wird im aktuellen Buch nicht explizit ausgeführt. Aber möglicherweise war die schwere Erkrankung ein Anlass, der Hoffnung in all ihren Facetten nachzuspüren.
Martin Oehlen
Jonas Grethlein: „Hoffnung – Eine Geschichte der Zuversicht von Homer bis zum Klimawandel“, C. H. Beck, 352 Seiten, 28 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
