Reisewarnung für den Transsibirien-Express: Vor dem Ticketkauf empfiehlt sich die Lektüre des „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ von Sarah Brooks

Foto: Bücheratlas/M.Oe.

Wir sind im 19. Jahrhundert unterwegs! Wer da nach einer originellen Zugverbindung sucht, der trifft mit einer Reise durchs sogenannte Ödland zwischen Peking und Moskau eine vorzügliche Wahl. Allerdings müssen alle Passagiere, die ein Ticket für den Transsibirien-Express buchen, zugleich eine Erklärung unterschreiben, bei Schadens- oder Todesfall keine Ansprüche an die Eisenbahngesellschaft zu stellen. Denn der Trip ist riskant. Die Trasse verläuft mitten durch eine ungebändigte Natur. Da lauern nie gehörte Gefahren: Krabbler, Lichter, Eulenaugen. Dringend wird den Fahrgästen geraten, die Vorhänge geschlossen zu halten. Bloß nicht hinausschauen. Denn dann droht das berüchtigte Ödlandweh.

Schillernde Schar startet in Peking

So erzählt es Sarah Brooks in ihrem an Erstaunlichem überquellenden Roman „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“. Der Titel wird im Roman selbst immer wieder erwähnt. Dabei handelt es sich um das Werk eines gewissen Valentin Rostow, das 1880 im Mirski Verlag in Moskau erschienen ist. Jeder der sieben Teile des Brooks-Romans wird mit einer Passage aus Rostows Reiseführer eingeleitet. Auch haben einige Passagiere das Buch zur Hand. Der Autor selbst gilt als verschollen.

Zunächst – aber nur zunächst – wähnt man sich wie im Orient-Express der Agatha Christie. Auch im Transsibirien-Express, den wir im Jahre 1899 in Peking besteigen, versammelt sich eine schillernde Schar. Unter anderem gehören dazu die Gräfin Anna Michailowna Sorokina mit ihrem Dienstmädchen, ein wenig respektierter Geistlicher, die LaFontaines aus Frankreich, der Naturforscher Henry Grey sowie die geheimnisvolle Alleinreisende, die in einer drängenden Mission unterwegs ist.

Zhang Weiwei kennt jeden Zugwinkel

Hinzu kommt die Zug-Besatzung. Nämlich der weibliche Captain, deren hervorstechendstes Merkmal ihre Abwesenheit ist, „obwohl sie zugleich überall ist.“ Weiter sind da die beiden argwöhnisch observierenden „Krähen“, der Scharfschütze im Ausguck und die Stewards mit ihren Beruhigungspfeilen. Und die alle überstrahlende Heldin an Bord? Das ist die sechzehn Jahre alte Zhang Weiwei. Sie wurde im Zug geboren, kennt jeden Winkel eines jeden Waggons und ist die quirlige Seele des Romans.

Dann – dann passiert das, was nicht passieren darf. Der Zug wird von den „Wellen“ des Ödlands erfasst und gerät auf ein Nebengleis. Die Crew spricht gar von einem „Geistergleis“. Als ein außerplanmäßiger Halt erforderlich ist, um Wasser aufzunehmen, tritt der Forschungsreisende Henry Grey heimlich hinaus ins Freie. Zwar ist das unter allen Umständen verboten. Doch der Gelehrte ist gebannt von der Aussicht, in diesem neuen Garten Eden Beweise für seine Mimikry-Theorie zu finden – für die Fähigkeit der Natur zur Nachahmung. Als er beglückt zum Zug zurückkehrt, wird er erst einmal in die Quarantänestation gesperrt.

„Vier glückliche Jahre“

Wir verraten nicht zu viel mit dem Hinweis, dass nun die Dinge aus dem Ruder laufen. Menschenhaut mutiert zu einer flirrenden Landkarte, auf der Abteilwand wuchert eine Flechte, der Boden wird von weißen Fäden erobert und plötzlich flattern Falter dicht und dichter. Es sind Szenen wie geschaffen für eine Verfilmung.  

Die Sinologin Sarah Brooks, die im nordenglischen Leeds lebt, hat sich für ihre Doktorarbeit mit dem „Liaozhai Zhiyi“ des Pu Songling (1640-1715) befasst. Es seien „vier glückliche Jahre“ gewesen, schreibt sie auf ihrer Homepage. In der Sammlung von über 500 „seltsamen Geschichten“ aus China verbindet Pu Songling Realität mit Fantastik; da ist es den Heldinnen und Helden gegeben, leichthin von der einen in die andere Welt zu wechseln. Dies mag Sarah Brooks eine Inspiration für den Romanplot gewesen sein.

„Something longer“

So taucht bei ihr ein wundersames Wesen aus dem Ödland auf, das sich unter die Menschen mischt. Warum sich diese sogenannte Elena, die gesegnet ist mit speziellen Gaben, als blinde Passagierin an Bord aufhält? Sie habe wissen wollen, sagt sie, was dieser Zug für ein Ding sei. „Warum es den Boden zum Beben bringt und der Luft so einen seltsamen Geschmack verleiht. Ich wollte wissen, wohin es geht und warum es immer wieder zurückkommt, warum sein Atem eine dunkelgraue Wolke ist und wozu es so viele Augen braucht.“ Augen? Gemeint sind die Fenster des Zugs.

Sarah Brooks hat ihren Roman erstaunlicherweise zunächst als Kurzgeschichte in einer Schreibwerkstatt präsentiert, das war 2012 in Seattle. Anschließend sei daraus „etwas Längeres“ geworden, sagt sie im Interview mit den Veranstaltern des Lucy Cavendish Literaturpreises, den sie 2019 erhalten hat. In diesem „something longer“, das nun auf 400 Seiten vorliegt, bietet die Autorin vielen vieles.

Schöpfung und Apokalypse

Sie hat einen Abenteuerroman verfasst, dem es an Spektakel nicht mangelt und der sich Anklänge an Schöpfungsgeschichte und Apokalypse leistet. Zudem setzt sie eine Road Novel, besser gesagt: eine Railway Novel aufs Gleis, deren Grundsound das Rattern der Räder und das Fauchen der Lok ist. Hinzu kommt eine Liebesgeschichte zwischen Maria Petrowna, die ganz anders heißt, und dem Kartografen Suzuki Kenji, der bei der ersten Begegnung sagt: „Sie kommen mir irgendwie bekannt vor.“ Und sie hat einen Fantasy-Roman geschrieben, in dem nachahmende Pflanzen Mensch und Material erobern.

Ja, Sarah Brooks lässt einen Naturroman erblühen, dem man mit etwas gutem Willen entnehmen kann, wie fatal der Raubbau an der Umwelt ist. Für die Manager der Transsibirien-Kompanie zählt lediglich, dass der Zug so häufig wie möglich fährt, um Profit zu generieren. Doch die Moral von der Geschicht‘ ist eine andere: Nur wer Maß hält, hat eine Chance, in Einklang mit den Elementen zu leben. Das ist keine überraschende, aber eine fesselnd vermittelte Erkenntnis.

„Gefahren der Fantasie“

Doch lassen wir die Kirche im Dorf und den Zug auf dem Gleis! Vor allem ist „Das Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“ ein erfrischender Unterhaltungsroman. Öde ist hier keine Seite. Dabei zieht Sarah Brooks nicht einmal alle Register. Erzählt wird ausschließlich aus der Perspektive der „Guten“ und nicht der „Schurken“. Auch tummeln wir uns fast durchweg in der Ersten Klasse. Was sich in der Dritten Klasse abspielt, erfahren wir allenfalls flüchtig beim seltenen Durcheilen der Abteile. Eine Zweite Klasse gibt es übrigens nicht: „Viele von der Crew sind der Ansicht, dass sie einfach vergessen wurde.“

Valentin Rostow warnt in seinem Ödland-Handbuch vor den „Gefahren der Fantasie“. Er empfiehlt den Reisenden, so wenig wie möglich nachzudenken. Das bewahre vor Weh und Ach. Allerdings bezeugt gerade Sarah Brooks, die für uns den Autor Valentin Rostow und die Geschichte um ihn herum erschaffen hat, was für ein Spaß es ist, wenn man lustvoll auf die Fantasie setzt.

Martin Oehlen

Sarah Brooks: „Handbuch für den vorsichtigen Reisenden durch das Ödland“, dt. von Claudia Feldmann, C. Bertelsmann, 416 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

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