
Der Roman „Kudos“ war im Jahre 2018 der Schlussstein von Rachel Cusks gefeierter Trilogie über die Odyssee der Schriftstellerin Faye durch den Literaturbetrieb und den Rest des Lebens. Darin wird Faye auf einem Flug von ihrem Sitznachbarn gefragt, was sie denn so schreibe: „Ich sagte, das sei schwierig zu erklären, und er nickte.“ Daran mag sich erinnern, wer nun zu „Parade“ greift. Das druckfrische Werk der Britin, die in Kanada geboren wurde und ihre Kindheit in Kalifornien verbracht hat, ist eine Herausforderung.
G wie Gender
Der Roman alter Ordnung wird gleichsam auf den Kopf gestellt. Hier gibt es keinen knackigen Plot, der zu allerlei abwechslungsreichen Erzählsträngen führte, und hier gibt es auch keine Heldenfiguren, deren Schicksal man mitfiebernd verfolgen könnte. Zwar ist immerzu von G die Rede – aber das ist nur die Namensabkürzung für gleich mehrere Personen weiblichen und männlichen Geschlechts. G wie Gender? Immerhin ist die Geschlechterfrage eine Dominante in Rachel Cusks Gesamtwerk. Sie widmet sich gerade auch in „Parade“ der Bedeutung und dem Verhältnis von Weiblichkeit und Männlichkeit, von Rolle und Identität.
Formal geht sie diesmal besonders radikal vor. Die Erzählperspektive wechselt immerzu: vom Ich zum Wir, vom persönlichen zum auktorialen Blickwinkel. Da findet die Leserschaft so schnell keinen festen Boden unter den Füßen. Immerhin soviel können wir sagen: Das Leben als Frau und Künstlerin ist der rote Faden in den vier Kapiteln. Wobei es nicht nur um eine Frau geht, wenn von „Frau“ die Rede ist, sondern um mehrere Verkörperungen. Kompliziert? Genau.
Die Kunst und der Ehemann
Welchen Einfluss der Ehemann auf die Kunst seiner Ehefrau nimmt, wird vielfach erörtert. Sein Auftreten und sein Urteil sind für die Künstlerin so folgenreich wie beengend. Psychische und körperliche Gewalt liegt in der Luft – innerhalb und außerhalb der Ehe. Als die Künstlerin auf offener Straße tätlich angegriffen wird, sorgt das für lange nachzitternde Erschütterung. Zumal es der Schlag einer Frau war; und weil die Angreiferin auf ihrer Flucht noch einmal innehielt und zurückblickte, als würde sie ihr Kunstwerk betrachten. Die Niedergeschlagene sagt: „In der darauffolgenden Zeit hatte ich den Eindruck, ermordet worden zu sein und dennoch am Leben.“
Die Frage, ob sich die Kunst mit der Mutterschaft verbinden lässt, ploppt da und dort auf. Da mag man sich an Rachel Cusks „Lebenswerk – Über das Mutterwerden“ von 2001 (auf Deutsch: 2019) erinnern. Als jetzt G – wer sonst! – ein Mädchen zur Welt bringt, ist sie zunächst enttäuscht. Doch dann wird ihr Leben mit Licht erfüllt: „Ihre Sehkraft war verdoppelt, nun da die Perspektive des Babys hinzukam.“
Einer wie Georg Baselitz
In Krisenfällen hilft der Frau, die Dinge auf den Kopf zu stellen. Ganz so wie der Maler, der seine Bilder „kopfüber“ malt hat und der nicht Georg Baselitz genannt wird (von solchen Kunstanspielungen gibt es einige). Das ist ihre Methode: „Was immer sie an den gegebenen Umständen bedrohlich oder überwältigend findet, wird neutralisiert, indem sie es sich falsch herum vorstellt.“ Dieses Kopfüber ist eines von mehreren Motiven, die den Roman durchziehen. Dazu gehört auch das Sterben der Eltern, das weniger als Trauerfall, denn als Belastung im Terminkalender verhandelt wird.
Beeindruckend ist der bohrende Blick der Autorin. Sie schaut – mit einem Wort, das sie gerne verwendet – „ohne zu blinzeln“. Details sind ihre Stärke. So wenn eine kahle Weide von oben betrachtet wird, die „in der Lache ihres eigenen Laubs“ steht, wie es Eva Bonné übersetzt. Oder wenn „die moppähnlichen Glieder der vielarmigen Kakteen“ ins Blickfeld geraten.
Ein herausforderndes Puzzle
Nicht selten ist man geneigt, Rückschlüsse vom Roman auf die Autorin zu ziehen. Das liegt nahe bei Rachel Cusk, die eine prominente Vertreterin des autofiktionalen Schreibens ist. Sie wolle nichts erfinden, heißt es über die Malerin, sondern benennen: „G vergaß, dass andere Menschen ihre Bilder anschauen würden. Sie malte alles, was sie fürchtete und hasste, das aber so fröhlich wie ein Kind, das insgeheim Macht ausübt, indem es seine Spielfiguren einander Dinge antun lässt.“
„Parade“ ist ein Puzzle. Ein Spinnennetz. Ein Debatten-Roman, der nicht auf Emotionen zielt, auch wenn viel von Hass und Liebe gesprochen wird. Ziemlich cool, als wären es die Instrumente auf einem blitzenden Zahnarzt-Tablett, werden Einschätzungen und Empfindungen, ethische und philosophische Erwägungen gereicht. Freilich gibt es keine alles krönende Erkenntnis. Das eine klingt triftig, das andere verstiegen. Da finde, wer suche, das Argument oder die Ansicht, die ins Schwarze trifft. Das Ganze: eine Herausforderung.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Rachel Cusks Roman „Kudos“ HIER vorgestellt.
Funfact
Es ist immer eine Freude, wenn die Gestaltung des Buchcovers einen originellen Twist hin zum Inhalt bietet. In diesem Fall ist es so, dass jede A-Versalie – sei es bei „Rachel“, „Suhrkamp“, „Roman“ oder „Parade“ – auf den Kopf gestellt wird. Warum das passt? Siehe oben! Die Buchgestaltung stammt von Nurten Zeren (Berlin).
Rachel Cusk: „Parade“, dt. von Eva Bonné, Suhrkamp, 172 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
