„Hoffen hat immer Saison“: Jürgen Becker glänzt mit Scherenschlag und Fallrückzieher in der „Nachspielzeit“

Jürgen Becker Foto: Bücheratlas/M.Oe.

Das weiß jeder Fußballfan: Die Nachspielzeit birgt viele Chancen. In ihr fallen zuweilen die schönsten Tore. Das ist zumal einem so erfahrenen Sportsfreund  wie Jürgen Becker bekannt. Der Kölner Schriftsteller hat das Spiel bereits verfolgt, als noch kein Chip im Ball klebte und der Schiedsrichter ohne Videobeweis auskam. „Scherenschlag und Fallrückzieher, Ballrückgaben von Heinz Schlömer, die alten Aschenplätze der Oberliga West“ – da kennt sich der Autor aus. Nun erscheint zu seinem 92. Geburtstag am 10. Juli eine neue Attraktion: „Nachspielzeit – Sätze und Gedichte“.

„nordwärts bootet sich Afrika ein“

Zwar sind vor zwei Jahren Jürgen Beckers „Gesammelte Gedichte 1971 – 2022“ veröffentlicht worden. Aber das heißt ja nicht, dass das schon alles gewesen sein soll. Mag die prächtige Gesamtausgabe für den Autor zunächst auch eine leicht bedrückende Wirkung gehabt haben, weil sie wie ein Schlussstein anmuten könnte, so hat er diesen Eindruck mit dem neuen Buch entschlossen vertrieben.

In den nun vorliegenden Sätzen und Gedichten werden die autobiografischen Journale fortgeschrieben. Weiter geht das Zappeln im „Netz der Zusammenhänge“, wie er es nennt. Da sind einerseits die Korrespondenzen zwischen dem Gestern und dem Heute, andererseits die Gleichzeitigkeiten wie bei dieser Kollision von Flucht und Freizeit: „nordwärts bootet sich Afrika ein. Wochenend / im Schlauchboot übern Baggersee.“

Sammler der Augenblicke

Jürgen Becker ist der Sammler der Augenblicke, der Schattenbilder und der Echofetzen. Denn es sind die Einzelheiten, „auf die es ankommt“. Da folgt das lyrische Ich dem Naturell seines Autors: Wegwerfen, was noch Verwendung finden könnte, ist keine Option. Selbst das Altpapier fordert Sensibilität ein: „Wenn ich mich auf den Gang der Geschichte besinne, fällt es mir schwer, die Zeitung von gestern wegzuwerfen.“

Die „Nachspielzeit“ liest sich wie eine Bestandsaufnahme. Was gibt es, was gab es. Was bleibt diesseits des Vergessenen, Verdrängten und Verlorenen. Listen helfen. Hier der Beginn einer Aufzählung von Namen, denen die Gegenstände abhandengekommen sind: „die Marke Juno, der Hanomag, die Dicke Berta, die Vossische Zeitung, der Warthegau, das Mutterkreuz, die Pferdebahn, die Zentrums-Partei, der Westwall, die Linie G, die Reichskanzlei, das Hotel Kossenhaschen, der Bayenthaler SV, die Ju 88, der Sender BFN, die Papierfabrik Zanders, das Eichenlaub mit Schwertern (…)“.

Neue Sachlichkeit und Surrealismus

Der Zweite Weltkrieg ist immer präsent. Da genügt ein Probealarm, um die Erinnerung zu aktivieren – an den Jungen, der mit seinen Eltern beim Frühstück saß, „als die eine Sirene losging, August 39“. Tatsächlich liest man solche Passagen – „Krieg“, „Kriegsgespenst“, „Kriegsführung“, „Kriegsjahr“ – gerade heute mit geschärfter Aufmerksamkeit, da die militärische Aufrüstung gesteigert wird und die kriegerische Zerstörung so nahe gerückt ist. Wo bleibt das Positive? Mehr als diese Einsicht ist nicht drin: „Hoffen hat immer Saison, selbst bei Windstille flattert es durch die Krise …“

Der Humor ist Jürgen Becker nicht fremd. Das deutet schon der ironisch klingende Buchtitel an. Auch eine Selbstcharakterisierung mit Hilfe der Kunstgeschichte bezeugt seinen Witz: „Tagsüber Neue Sachlichkeit, Surrealist in der Nacht.“

Briketts und Fritten

Doch mehr noch durchzieht Melancholie die „Nachspielzeit“. Sie wird zumal befördert von der Erinnerung an Rango Bohne, die 2021 verstorbene Ehefrau und bildende Künstlerin. Viel „Leere“ seitdem. „Beim Wiederlesen eines kleinen Prosastücks, das ich vor sieben Jahren geschrieben hatte, kam ich nicht über die Stelle hinaus, wo meine Frau das Auto in die Garage fährt.“ Die Stille im Haus korrespondiert mit der Stille am Kölner Stadtrand, wo Jürgen Becker wohnt.

Scheinbar paradiert das ganze Leben vorbei – mit Kindheit und Krieg, Briketts vor dem Haus und Fritten in Belgien, Erfurter Bahnhof und Strundener Straße, Nebel am Morgen und Quitten im Garten. Vertraute Motive, die im Gesamtwerk immer wieder neu beleuchtet werden. Auch der Rundfunk gehört dazu, dem Jürgen Becker als Hörspielchef des Deutschlandfunks fast 20 Jahre lang verbunden war: „Das Radio berichtet und sagt, man kann die Berichte nicht überprüfen.“ 

Lupe und Fernrohr

Eine blitzende Klarheit prägt dieses Buch. Die Gedichte und Sätze sind aufgeräumt und schlank. Frei von allem Zierrat. Einmal heißt es, dass die Sätze, wenn auch vergebens, auf „die Eigenschaften einer Lupe, eines Fernrohrs“ zielten. Nicht nur sehen, so könnte das Motto all dieser Zeilen lauten, sondern genau hinsehen.

Jürgen Becker hat die deutsche Nachkriegsliteratur wie nur wenige andere Autorinnen und Autorinnen durchmessen. Davon künden der frühe Preis der Gruppe 47 (1967) und der späte Georg-Büchner-Preis (2014), zwischendrin dann auch noch Auszeichnungen im Namen von Uwe Johnson und Heinrich Böll, Hermann Lenz und Günter Eich und noch einiger mehr. Nun ist der Autor in einem nicht mehr jugendlichen Alter. Und „je älter / man wird, desto häufiger bekommt man zu lesen, dass / die Vonunsgegangenen jünger als man selber sind.“

„Ein stummes Archiv“

Der Raum für die „vita activa“ ist ein wenig reduziert. Das liest sich bei ihm so: „Was heute auf mich wartet, es sind die leeren Flaschen, dass ich sie zum Container fahre, das Zypern-Gras, dass ich es gieße, die Herdplatte, dass ich sie reinige mit Ceraclen, der Stuhl am Fenster, dass ich zum Sitzen komme, die Zwiebelwurst, dass ich nach dem Datum schaue, das Eichhörnchen, dass ich ihm eine Walnuss hinlege, der Nebel, dass ich wahrnehme, wie er sich auflöst.“

Doch es gibt noch viel zu schreiben. Allein der Vorrat in alten Notizbüchern, „ein stummes Archiv“, ist enorm. Auch der Gang durch die Zimmer kann stimulierend wirken: „Koffer auf dem Speicher, Konservendosen im Schrank. So viele Geschichten, die noch warten, dass man sie erzählt. Erfinden muss man keine, alle sind mit im Haus.“

„Ruhe ist nicht angesagt“

Da will der letzte Satz in diesem schönen Band kein letzter Satz sein. Er meidet – wie schon in anderen Bänden zuvor, zuletzt in „Die Rückkehr der Gewohnheiten“ (2022) – den Schlusspunkt und zieht stattdessen einen Gedankenstrich vor: „Ruhe ist nicht angesagt; unentschieden, wie es weitergeht, und auch die Nachspielzeit hört einmal auf –“ Stimmt. Aber auf die Nachspielzeit folgen noch die Verlängerung und das Elfmeterschießen.

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

finden sich zahlreiche Beiträge zum Werk von Jürgen Becker. Ein Gespräch anlässlich seines 90. Geburtstages vor zwei Jahren finde sich HIER.

Lesung

von Jürgen Becker aus „Nachspielzeit – Sätze und Gedichte“ am 28. August 2024 um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln, Großer Griechenmarkt 39, Eintritt: 12 Euro, erm. 10 Euro. Die Moderation übernimmt die Schriftstellerin Nadja Küchenmeister, die selbst im Buch vorkommt: „Vor einem halben Jahr die Ansichtskarte aus Berlin / von Nadja Küchenmeister. Sie teilte mit, dass seit heute / Krieg ist, und dass sie die Ansicht gefunden hat / von der Käthe-Niederkirchner-Straße, mit Fuhrwerken, / Pferden und Stille vor 120 Jahren.“

Jürgen Becker: „Nachspielzeit – Sätze und Gedichte“, Suhrkamp, 112 Seiten, 24 Euro.

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