
Tom Coraghessan Boyle macht auch auf der Kurzstrecke eine gute Literaturfigur. Zwar ist der US-Starautor vor allem als Romancier vertraut – und seinen jüngsten Roman, „Blue Skies“, haben wir auf den Tag genau vor einem Jahr auf diesem Blog vorgestellt (HIER). Aber es müssen nicht immer 400 Seiten sein, um eine Geschichte mit Witz und Biss zu erzählen. Die Stories, die nun unter dem Titel „I Walk Between the Raindrops“ veröffentlich werden, bieten allesamt vortreffliches Entertainment.
Madame C. gewinnt ihre Wette
Am stärksten wirken jene Kurzgeschichten, in denen von zufälligen Begegnungen mit Personen erzählt wird, in denen sich Abgründe auftun. Die lebensmüde Frau aus der Bar, von der es gegen Ende heißt, dass sie noch rechtzeitig von den Bahngleisen geholt werden konnte. Oder der junge Loser im Zug, der einen Amokläufer, dessen mörderisches Treiben gerade Tagesgespräch ist, als „große Seele“ rühmt. Schließlich der Schriftsteller, der sich nicht weiter auf den jungen Mann einlassen will, der an der Haustüre geklingelt hat und nun so bescheiden wie begründet vorträgt, dass die beiden Vater und Sohn sein könnten. Nicht derart dunkel, sondern lebensbejahend hingegen die Geschichte von Madame C. in der Provence: sie gewinnt die Wette gegen einen traurigen Wohnungsspekulanten, indem sie locker über 120 Jahre alt wird.
Naturfreaks, Autonomes Fahren und unterschwelliger Rassismus werden verhandelt, auch eine Dystopie mit „Führer“ und „Sprachverbrechen“. Und mitten durch die jüngste Vergangenheit kreuzt ein Passagierschiff, das wegen der ausbrechenden Covid-Pandemie unter Quarantäne gestellt wird (was auch deshalb interessant, weil der Autor für die Recherche wohl nur die Nachrichtensendungen rekapitulieren musste).
Happy End mit Hund
„I Walk Between the Raindrops“ bietet – wie man sieht – einen prall gefüllten Früchtekorb. T. C. Boyle wirkt hier erneut wie ein gutgelaunter Skeptiker. Die Welt ist zwar nicht zu retten, aber wir haben ja keine andere.
Der Autor erzählt seine Stories in einem ruhigen Ton, der alle Dramatik dem Setting und dem Geschehen überlässt. Immer wieder finden sich Formulierungen, die angenehm kitzeln, wie etwa jene von „einem Haarschnitt, der achtzig Prozent der Kopfhaut freilegte“. Selbstverständlich wird nicht moralisierend der Finger gehoben. Auch neigen die Geschichten zu keinem Ende mit Erdrutsch oder Feuerwerk. Vielmehr klingen sie zumeist mit einem Nachhall aus. Insofern ist die dreizehnte und finale Kurzgeschichte des Buches eine große Ausnahme: „Hundelabor“ endet nicht nur mit der wichtigsten Information im letzten Sat. Es ist darüber hinaus ein Happy End mit Haustier. Offen gestanden: Nichts anderes hätten wir uns an dieser Stelle mehr gewünscht.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir schon einige Beiträge zu und (in einem Fall auch von) T. C. Boyle veröffentlicht – zuletzt die Besprechung des Romans „Blue Skies“ (HIER).
T. C. Boyle: „I Walk Between the Raindrops“, dt. von Dirk van Gunsteren und Anette Grube, Hanser, 272 Seiten, 25 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
