
Der junge Salim aus Sansibar tritt eine große Reise an. Nicht ins Herz der Finsternis. Aber auch nicht ins Paradies. Sein Onkel, der im diplomatischen Dienst in Großbritannien tätig ist, bietet ihm ein Studium in London an. Das klingt zunächst einmal super. Ist es aber nicht. Aus vielen Gründen. Salim erkennt es bald. Das hängt mit der Historie seiner Familie im Kleinen und mit der Historie seines Landes im Großen zusammen.
Absulrazak Gurnah, der Literaturnobelpreisträger des Jahres 2021, erzählt diese berührend-intensive Geschichte von Macht und Ohnmacht, von Selbstfindung und Familiengeheimnissen in seinem Roman „Gravel Heart“ aus dem Jahre 2017. Nun erscheint das Werk in der Übersetzung von Eva Bonné und unter dem Titel „Das versteinerte Herz“ im Penguin Verlag. Abdulrazak Gurnah selbst stellte die deutschsprachige Neuerscheinung soeben auf Einladung des Literaturhaus Wien im „Salon Molière“ in der Liechtensteiner Straße vor. Mit Katja Gasser als Moderatorin, und mit Robert Stadlober, der drei Passagen las.
„Der Horror des Kolonialismus“
Das erste Buch, das er in seinem Leben gelesen habe, sei der Koran gewesen, erzählte Abdulrazak Gurnah. Allerdings habe es sich dabei nicht in erster Linie um ein religiöses Bekenntnis gehandelt. „Den Koran in der Koranschule zu lesen, hat nichts mit Religion zu tun“, sagte er. „Es gehörte einfach dazu, um sich in die Gesellschaft zu integrieren.“ So gebe es ebenso ein soziales Bekenntnis zum Islam wie auch ein religiöses. Ob er sich als „arabischer Moslem“ verstehe, lautete die Nachfrage. Aber nein! Er sei ein Sansibarer.
Swahili sei seine erste Sprache. Englisch spreche er nur, weil sein Land von den Briten kolonialisiert worden sei. „Eines Tages habe ich dann bemerkt, dass ich mich im Englischen ganz gut ausdrücken kann.“ Vor allem das Wort „Horror“, das auch in Joseph Conrads „Herz der Finsternis“ eine prominente Rolle spiele, verbinde er mit dem Imperialismus und dem Kolonialismus. Und wie es auch bei Conrad angedeutet werde, gebe es bei den ehemaligen Kolonialmächten den Drang, ein beschönigendes Narrativ über die Kolonialzeit anzubieten. Immerhin könne die Literatur mit einer ergänzenden Erzählung aufwarten: „Die ist sicher auch nicht komplett – aber trägt bei zu einem etwas genaueren Bild.“
„Die Macht der Männer“
Abdulrazak Gurnah selbst, das kann mühelos konstatiert werden, leistet zu dieser Korrektur des Kolonialismus-Narrativs mit seinem Werk einen erheblichen Beitrag. In der Begründung des Nobelpreis-Komitees hieß es, er werde geehrt „für sein kompromissloses und mitfühlendes Durchdringen der Auswirkungen des Kolonialismus und des Flüchtlingsschicksals in der Kluft zwischen Kulturen und Kontinenten“. Nun sagt er in Wien, es gehe in seinen Büchern unter anderem um Formen und Folgen der Machtausübung. „Die Macht liegt oft in den Händen von Männern. Und meistens sind es Frauen und Kinder, die Opfer dieser Macht werden. Aber auch Männer können zu den Machtlosen gehören.“
Als er mit dem Schreiben begonnen habe, sei dies nicht mit dem Plan verbunden gewesen, eines Tages als Schriftsteller Karriere zu machen. Vielmehr sei es aus purem Spaß geschehen. „Das Vergnügen beim Schreiben ist bei mir immer noch vorhanden. Es ist für mich keine Qual, aber es ist auch nicht einfach.“ Die größte Freude sei für ihn, wenn nach oft jahrelanger Arbeit am Schreibtisch endlich die letzte Fassung eines Romans abgeschlossen sei.
„Der Wahrheit verpflichtet“
Seine Losung lautet: „Ich schreibe über das, was ich sehe.“ Als Autor wolle er niemanden anderen als sich selbst repräsentieren. Schreiben als Kunst sei zur Wahrheit verpflichtet. „Ich will nichts übertreiben, sondern die Dinge so darstellen, wie ich sie sehe.“ Auch sei es ihm wichtig, „klar zu schreiben, damit ich verstanden werde.“ Das sei sein Beitrag zur Form eines Buches.
Mal gerade heraus gefragt: Wie geht es denn bei ihm los mit einem Roman? „Mit einer Idee fängt es an – und darum gruppieren sich dann viele weitere Aspekte.“ Im Falle des Romans „Das versteinerte Herz“ sei es der Tod seiner Mutter gewesen. „Im Islam ist es bekanntlich so, dass ein Leichnam binnen kurzer Zeit, also innerhalb von 24 Stunden, beerdigt werden muss. Als meine Mutter starb, war ich nicht erreichbar – denn zu der Zeit gab es keine Mobiltelefone. Ich habe erst drei Tage später von ihrem Tod erfahren. Das war sehr hart für mich. Aber hätte ich damals früher davon erfahren, hätte ich womöglich nicht das Geld gehabt, um sofort nach Hause zu fliegen.“ Darüber nachzudenken, was das für einen Menschen bedeutet, sei für ihn der Ursprung dieses Romans gewesen.

„Der Schatz der Zugehörigkeit“
„In allen meinen Büchern schreibe ich über Verlust“, stellte er fest. „Die Elemente von Tragik, die sich in diesen Romanen finden, haben mit familiären Verlusten zu tun.“ Ihm selbst sei die Familie sehr wichtig. „Das Zugehörigkeitsgefühl zu Verwandten und Bekannten ist ein Schatz, der allzu oft unterbewertet wird.“
Dann noch die finale Frage, warum er sich so sehr für Cricket begeistere. In dem Moment scheint der sehr entspannte, sehr freundliche, sehr verbindliche Autor für eine Millisekunde sprachlos zu sein. Das sei nun gewiss keine „funny“ Frage, als die Katja Gasser sie angekündigt habe, sondern eine ahnungslose („ignorant“), urteilt er. Cricket sei für ihn ein Sport, dem er einen ganzen Tag lang zuschauen könnte. Allein das Zusammenwirken von Werfer und Schlagmann und den sie umgebenden Mitspielern sei faszinierend. Zudem habe das Spiel viel mit Geduld zu tun und erstrecke sich zuweilen über mehrere Tage. „Ich weiß nicht, was Cricket mit Literatur verbindet – aber dem Spiel zuzuschauen, fühlt sich gut an.“ Damit war das auch geklärt.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Abdulrazak Gurnahs Roman „Das verlorene Paradies“ aus dem Jahr 2021 HIER vorgestellt.
In Kürze folgt die ausführliche Besprechung des neuen Romans „Das versteinerte Herz“.
Abdulrazak Gurnah: „Das versteinerte Herz“, dt. von Eva Bonné, Penguin Verlag, 368 Seiten, 26,80 Euro. E-Book: 21,99 Euro.
