
Vor über 50 Jahren, im fernen 1973, ist der Roman „State of Grace“ von Joy Williams in den USA veröffentlicht worden. Jetzt taucht er wie eine Sternschnuppe auf dem deutschen Buchmarkt auf. Und gleich drängt sich eine vertraute Frage auf: Wie viele gute Bücher aus New York-Rio-Tokio mögen täglich unerkannt vorüberziehen, wenn selbst ein solch sehr gutes Werk derart lange Zeit ignoriert werden kann.
Flucht vor dem Prediger
„In der Gnade“ erscheint in der vortrefflichen Übersetzung von Julia Wolf im Deutschen Taschenbuch Verlag, der ja längst nicht mehr nur mit Taschenbüchern unterwegs ist, sondern ebenso mit erstklassigen Originalausgaben. Da denke man aktuell an Barbara Kingsolvers „Demon Copperhead“ (auf diesem Blog gibt es HIER eine Rezension). Auch die „Stories“ (HIER) von Joy Williams sind dort im vergangenen Jahr erschienen und haben sofort das Verlangen nach mehr geweckt. Nun also der Roman!
Es ist die Geschichte von Kate, der Tochter eines Predigers, die vor diesem „furchteinflößenden Vater“ flüchtet, um ihr Leben zu finden. Als wir sie kennenlernen, wohnt sie mit dem Studenten Grady in einem Trailer im Wald, irgendwo in der Nähe des Golfs von Mexiko, wo es schwül und fettig ist. Kate ist im fünften Monat schwanger, doch ob das Kind von Grady ist, ist nicht sehr wahrscheinlich. Sie trifft viele Männer.
„Doreen ist nicht das tiefste Tellerchen“
Zu ihrem Bekanntenkreis gehört Corinthian Brown, der als Tierpfleger in einem heruntergekommenen Zoo arbeitet. Den dort lebenden Leoparden leiht er eines Tages aus. Auf Bitten von Kate. Denn ihre Freundin Doreen möchte mit dem Leoparden als Blickfang bei der Wahl zur College-Königin antreten. Es stimmt schon: „Doreen ist wirklich nicht das tiefste Tellerchen, um nicht zu sagen dumm wie Brot.“
Der Auftritt mit dem Leoparden geht leider nicht gut aus. Wie so vieles in diesem Roman. Da denke man nur an den Unfall mit dem alten Jaguar, keinem Raubtier, sondern Gradys Wagen. Überall Wildnis, so scheint es, gespickt mit gefährlichen Tieren und fiesen Schlingpflanzen. Kein Wunder, dass sich Kate danach sehnt, ihr Leben möge wie ein Zug auf freier Strecke zum Stillstand kommen – „zwischen dem, was geschehen ist und was gerade geschieht.“
„Wer kann es wergründen?“
Einmal bekommt Kate Besuch von ihrem Vater. Sie treffen sich in einem Hotel, „kein schickes Hotel“, wie die Ich-Erzählerin sagt, sondern eines, in dem die Gäste nur ausruhen wollen: „Eine Durchgangsstation für Reisende, die schon länger nicht mehr aufgebrochen sind.“ Dort fragt der Vater, der Kate heimholen möchte: „Was solltest du suchen, mein Liebling, was dich von mir fortführt?“ Sie macht es kurz: „Das sage ich dir, Daddy: Liebe. Ich habe Liebe gesucht.“
Vieles kommt zur Sprache. Aber manches bleibt dem Kopfkino überlassen. „Ich muss dir von Vater erzählen“, sagt Kate nach einigen Anläufen zu Grady. Sie kündigt es zweimal an. Doch wir erfahren nicht, was sie unbedingt loswerden will. Bibelsprüche pflastern ihren Weg. Hier mal was vom Propheten Jeremias: „Es ist das Herz ein trotzig und verzagt Ding: Wer kann es ergründen?“
„Schon so lange nicht mehr geweint“
Wie Joy Williams die Geschichte einer Lebenssuche in Form bringt, ist brillant. Ihre Erzählung springt zwischen den Zeiten und Ebenen hin und her. Träume und Alpträume, Irritationen und Fehlbelichtungen mischen die Realität zuweilen phantasmagorisch auf. Dann wieder schlägt das Pendel zurück. Wo es eben noch blitzte und krachte, wabert plötzlich Lakonie und Melancholie durch die Szenerie. Für Monstrositäten genügt schon mal, wie auch in den „Stories“ zu lesen ist, ein beiläufig dargereichter Satz: „Al Glick hat seine erste und letzte Frau getötet, indem er ihr Gesicht zu fest in eine heiße Pfanne mit Essen drückte, das ihm nicht schmeckte.“
Überragend sind der scharfe Blick und das tiefe Einfühlen. Mit wenigen Worten spricht die Autorin Bände: „Ich habe schon so lange nicht mehr geweint, seit so vielen Jahren, dass es mir vorkommt, als würde ich es falsch machen.“ Überhaupt die Sprache der Autorin! So wie Julia Wolf sie uns vermittelt, klingt sie unverbraucht: „Wir griffen nach unseren Körpern wie nach Besteck beim Essen.“ Und wo es um Redewendungen geht, scheint die Übersetzerin (Jahrgang 1980) im Wörterbuch der Umgangssprache der 1970er Jahre geblättert zu haben: „Hallihallo“ und „Dann bis Baldrian!“
„Uns ist nicht zu helfen“
Was war los im Jahre 1973? Richard Nixon bekommt wegen der Watergate-Affäre allmählich kalte Füße. Pinochet putscht sich in Chile an die Macht. Pablo Picasso stirbt. Abba und Queen legten ihre Debütalben vor. Und im Kino läuft „American Graffiti“ von George Lucas. Sonst noch was? Genau: Joy Williams‘ erster Roman erscheint in den USA, an dessen deutscher Übersetzung wir uns jetzt, über 50 Jahre später, erfreuen können.
An Sätzen wie diesen: „Aber wir sind alle wie Touristen in diesem Leben, wir lassen uns viel zu leicht täuschen. Uns ist nicht zu helfen.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir die „Stories“ von Joy Williams HIER besprochen.
Joy Williams: „In der Gnade“, dt. von Julia Wolf, dtv, 336 Seiten, 24,70 Euro. E-Book: 19,99 Euro.
