
Das „Atelier Galata“, das sich in der Nähe des Taksim-Platzes in Istanbul befindet, ist ein Artist-in-Residence-Angebot der Stadt Köln und der Kunststiftung NRW. Ziel des jeweils sechsmonatigen Arbeitsstipendiums für Künstlerinnen und Künstler ist es, die Szene in Istanbul kennenzulernen, Kontakte zu knüpfen und Projekte zu entwickeln. Sabine Schiffner, der das Stipendium fürs Pandemie-Jahr 2021 zugesprochen worden war, hat das Soll vortrefflich übererfüllt. Nachprüfbar ist das in „Zeynep suchen“, einem als „Blog-Roman“ bezeichneten Tagebuch, dessen Premierenlesung an diesem Samstag ansteht.
Vom Bosporus nach Bremen
Auslöser für die Reise nach Istanbul war der Wunsch, die Freundin Zeynep wiederzusehen. Vor mittlerweile über 40 Jahren, genaugenommen im Jahr 1982, war die Türkin als Austauschschülerin vom Bosporus nach Bremen gereist, wo sie im Haushalt der Familie Schiffner unterkam. Die jungen Frauen haben sich blendend verstanden, aber dann aus den Augen verloren. Wäre es möglich, fragt sich die Autorin, Zeynep nach den vielen Jahren wiederzufinden?
Aber warum denn nicht! Immerhin gibt es noch eine alte Adresse. Und tatsächlich wird die Spur sehr heiß, sobald sich Sabine Schiffner endlich dorthin aufmacht. Kurz und gut: Am 47. Tag in Istanbul wird Zeyneps Mutter ausfindig gemacht, die dann ihre Tochter anruft und den Hörer weiterreicht, worauf Freudentränen fließen. Es folgen zahlreiche Treffen in Cafés, auf Fähren, beim regelmäßigen Flohmarkt-Besuch am Donnerstag oder auf Spaziergängen.




Die 17 Arten von Wahrsagerei
So weit, so harmonisch. Doch der wahre Schatz dieses Buches ist der intensive Blick auf das Leben in Istanbul. Sabine Schiffner hält Tag für Tag fest, vom 2. Juli bis zum 23. Dezember 2021, was sie erlebt und erfährt. „Mein Gedächtnis ist schlecht, war schon immer schlecht“, notiert sie am 24. August (das ist – Funfact-Alarm – der Geburtstag von Jorge Luis Borges, dessen Erzählung „Das unerbittliche Gedächtnis“ einen Mann schildert, der nichts vergessen kann). Weil sie sich so schlecht erinnern könne, teilt Sabine Schiffner weiter mit, schreibe sie: „Nur so kann ich die Dinge erinnern.“ Die daraus resultierende Detailfülle ist erheblich. Dadurch dass die Autorin so viele Beobachtungen festhält, auch solche von scheinbar belangloser Art, entsteht ein funkelndes Mosaik.
Bei ihren Erkundungsgängen durch die Stadt beeindruckt sie mit Neugier, Offenheit und einer erstaunlichen Kondition. Es ist sehr vieles drin in diesem Tagebuch, dessen viele Geschichten und unterschiedlichen Schwerpunkte ein veritables Lesebuch ergeben. Da geht es um Armenier und Kurden, Museen und Moscheen, Erdogan und Lira-Inflation, Unterdrückung und Aufbegehren, 17 Arten von Wahrsagerei und Tierschlachtung beim Opferfest: „Ich weiß nicht, warum ich so ruhig zugucken kann.“
Mit Homer und Karl May
Es ist die Perspektive einer Deutschen, die wir hier kennenlernen. Was denn auch sonst! Immer wieder interessiert sie sich für die Religionen. Sie liest im Koran, staunt über das Läuten von Kirchenglocken und bemerkt, dass die SynagogenCvon außen fast gar nicht als solche zu erkennen sind“. Literarische Anmerkungen gibt es so regelmäßig wie den Ruf des Muezzin (der am Ende dann auch eine Lesung unterbricht). Sie ist unterwegs mit Karl Mays „Von Bagdad nach Stambul“ und mit Homers „Odyssee“, mit Gedichten von Barbara Köhler und mit Werken von Orhan Pamuk, den ihre Freundin Zeynep, die ihn als Journalistin aus Interviews kennt, „für arrogant hält“.
Jeder Eintrag beginnt mit einer türkischen Vokabel. Diese Begeisterung für die fremde Sprache, zu der sie sich gleich zu Anfang bekennt, trägt viele Früchte. Was wir angestrichen haben: „Heymatloz“ hat den Weg ins Türkische gefunden. Zeynep bedeutet „Wüstenblume“ oder auch „Schmuck des Vaters“. Dass die schwarzweiße Melancholie als „Hüzun“ bezeichnet wird, hatte die Autorin zuvor schon bei Orhan Pamuk gelesen (dessen „Istanbul“-Buch natürlich auch eine Wucht ist). Und „Günlük“ steht für „Tagebuch“.
„Außer Rand und Band“
Nicht wenige Einträge darin werden mit Türkei-Nachrichten aus der deutschen Tagespresse eröffnet: „Angriff auf türkischen Journalisten“, „Ein Gesetz, das die Rechte der Frauen schwächt“. Sabine Schiffner selbst kommt mehrfach auf die politischen Gefangenen zu sprechen. Sie realisiert sogar eine Performance für den inhaftierten kurdischen Schriftsteller Ilhan Sami Comak.
Reizvoll sind Sabine Schiffners Rückverweise auf die Heimat. Als ein Fährkapitän die Nerven verliert und „außer Rand und Band“ gerät, fühlt sie sich an Autorowdys in Deutschland erinnert. Und dass sie die Obdachlosen zunächst gar nicht so recht wahrnimmt, führt sie darauf zurück, dass ihr der Anblick aus Köln vertraut ist. Im Laufe des Stipendiums wird sie dann auch mal in einer Obdachlosen-Küche aushelfen.
Goldenes Füllhorn
„Zeynep suchen“ ist ein gut gefüllter Wissensspeicher. Gleichsam ein – pardon! – Goldenes Füllhorn vom Bosporus. Die Texte erreichen eine schöne Tiefe und Breite. Immerzu verspürt man den Recherche-Ehrgeiz der Autorin. Kaum ist eine aktuellere Lektüre vorstellbar, um sich auf einen Aufenthalt in Istanbul vorzubereiten. Aber auch jeder Leser und jede Leserin, die nun nicht gleich auf Reisen gehen will, kommt mit diesem Buch ganz schön rum.
Die Blogbeiträge, die Sabine Schiffner während ihres Galata-Stipendiums im Jahre 2021 veröffentlicht hat, wurden für dieses Buch überarbeitet. Um die Texte gemeinsam mit Zeynep durchzugehen, ist sie 2023 noch einmal nach Istanbul gereist. Diesmal musste die Autorin nicht lange suchen: Die Adresse der Freundin war ihr ja mittlerweile bekannt.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir von Sabine Schiffner zuletzt den Roman „Nachtigallentage“ HIER besprochen.
Die Premierenlesung
des Romans findet am 17. Februar um 19 Uhr in der Reihe „Offenes Literaturhaus“ im Literaturhaus Köln statt. Die Moderation hat Ulrike Anna Bleier (die sich zu ihrem „Spukhafte Fernwirkung“ auf diesem Blog HIER äußert). Der Eintritt ist frei.
Sabine Schiffner: „Zeynep suchen – Ein Blog-Roman aus Istanbul“, Verlag Dagyeli, 368 Seiten, 24 Euro.

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