
Wer zu Besuch kommt, bringt zuweilen gute Gaben mit. Allerdings waren es keine Geschenke, die die Autorinnen und Autoren der neunten Poetica in Köln auspackten, als sie sich zur Veranstaltung „Lost Words – Lost Worlds“ im Erich-Auerbach-Institut der Kölner Universität trafen. Vielmehr hatte Daniela Danz, die einladende Kuratorin des diesjährigen „Festivals für Weltliteratur“, einen Wunsch geäußert: Jeder und jede sollte ein Objekt oder ein Bild mitbringen, das er und sie mit verlorenen Wörtern oder untergegangenen Naturerfahrungen in Verbindung bringt.
Eine schöne Idee für eine Poetica, die sich in dieser Woche ganz und gar der Umwelt verschrieben hat. Das Motto lautet: „Nach der Natur – Imaginations of Nature Poetry“.
Die Schöpfung schützen
Liana Sakelliou eröffnete das kurzweilige Potpourri mit einem Glas voller Glühwürmchen. Allerdings und naheliegenderweise gab es die leuchtende Pracht nur als Fotografie auf der Leinwand zu sehen. Die in der Nacht funkelnden Wesen, die mit diesem Chemie-Trick Ihresgleichen anlocken und Feinde abschrecken wollen, erinnern die Griechin an die Kindheit. Mittlerweile seien die Glühwürmchen verschwunden, sagte die Lyrikerin. Jedenfalls auf der Insel ihrer Familie. Geblieben sei ein Glas voller Erinnerungen.
Die Schlussfolgerung von Liana Sakelliou: Wir müssen die Schöpfung bewahren! Dabei weiß sie wie alle Welt, dass schon vieles verloren ist. Das war dann auch der Tenor der gesamten Veranstaltung (die in Kooperation mit dem Forschungsinstitut MESH entstand: Multidisciplinary Environmental Studies in the Humanities an der Philosophischen Fakultät der Universität).
Die Süße des sauren Apfels
Esther Kinsky hatte einen sauren Apfel mitgebracht. Ihr Vater, sagte sie, habe noch alle möglichen Sorten gekannt. Mittlerweile freilich sei diese Fähigkeit zur Differenzierung verloren gegangen. Auch die Vielfalt der Geschmacksrichtungen scheint ihr nicht mehr die alte zu sein. Wer habe denn noch die Geduld, die Äpfel zu lagern, bis sie ihren vollen Duft entfalten, fragte sie. Standardisierung mache sich breit.
Verlustempfindungen treiben auch die Amerikanerin Camille T. Dungy um. Sie hielt eine handtellergroße Koralle in die Höhe, die gemeinhin auf ihrem Schreibtisch platziert ist. Dieses Kunstwerk der Natur erinnert sie selbstredend an die sterbenden Riffe, die so vielen Lebewesen einen Schutzraum bieten. Wo die Korallen erbleichen, das ist die schlicht-schreckliche Tatsache, gehen der Welt Farbe und Vielfalt verloren.
Das Läuten der Kindheit
Ebenfalls vom Schreibtisch stammen die beiden Schafsglocken, die Ali Abdollahi läutet. Mal sanft wie beim Grasen, mal hektisch wie bei Gefahr. Der Töne erinnern den Iraner an die Kindheit, als die Familie noch eine Herde hielt. Das sei 20 Jahre her. Die Glocken weisen deutliche Gebrauchsspuren auf und sind fern von dem, wie der Autor betonte, was Touristen als Souvenir angeboten werde. Umso intensiver wirkt der Sound der Heimat auf Ali Abdollahi ein, da er ihn im Exil in Deutschland vernimmt.
Verlust allenthalben. Die Japanerin Takako Arai hat in einem Gebiet, das vom Tsunami verwüstet worden war, mit alten Frauen gesprochen. Dabei hat sie festgestellt, wie schwierig bis unmöglich es ist, das mündliche Sprechen in Schriftzeichen zu übertragen. Zumal dann, wenn der Dialekt ins Spiel komme. So entschloss sie sich, einen Film zu drehen, in dem diese Stimmen nun dokumentiert sind. Die Austernschalen, die sie mitgebracht hat, stammen von der Küste, an der sie die Gespräche geführt hat.



Raphael Urweider (links) hält seinen Bergkristall hoch, Nikola Madžirov zeigt Geldmünzen mit Tiermotiven und Takako Arai schildert ihre Begegnung mit Menschen nach einer Tsunami-Katastrophe. Fotos: Bücheratlas
Ein Sonntagsausflug in Kolumbien
Allemal überraschende Objekte wurden aus den Taschen gefischt. Während der Nordmazedonier Nikola Madžirov über Tierporträts reflektierte, die auf den Münzen seiner Heimat zu finden sind, präsentierte der Schweizer Raphael Urweider einen Bergkristall, den er als „Strahler“ in den Alpen gefunden hatte – was eine so beliebte wie riskante Schatzsuche ist, wie er versicherte.
Zur Landschaftsmalerei zog es María Paz Guerrero, die einen typischen Sonntagsausflug in ihrem Kolumbien skizzierte. Der führt in aller Regel an den Fluss und hat unveränderliche Elementarteilchen: Das Essen, laute Musik, Alkoholika und Badespaß. Klingt super. Allerdings lauern im Untergrund dieser bukolischen Verlockung Risiken: kleine Prügeleien, der Kater danach und nicht zuletzt die gefährlichen Strudel im Fluss.
Die Botschaft der Raupe
Schließlich sorgte Kendel Hippolyte für den Schuss Optimismus, mit dem er schon den Eröffnungsabend bereichert hatte. Er zeigte Aufnahmen aus seinem Garten in St. Lucia in der Karibik. Wo Blätter fallen, sagte er, wachsen auch wieder Blätter nach. Eine Raupe findet seine besondere Aufmerksamkeit. Sie nämlich erinnert ihn daran, dass sich vieles auch zum Schönen, also zum Schmetterling entwickeln könne. Er stellte fest, ausdrücklich ohne ins Spirituelle abdriften zu wollen, dass im Menschen mehr stecke als man gemeinhin annehme – ein höheres Wesen nämlich, das nur entdeckt werden müsse. Die Raupe mache es vor.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir über die Eröffnung der Poetica 9 HIER berichtet.
Die Poetica 9
findet täglich bis zum 27. Januar 2024 an unterschiedlichen Orten in Köln statt.
Das „Festival für Weltliteratur“,
wie sich die Poetica im Untertitel nennt, wurde 2015 von Günter Blamberger an der Universität zu Köln etabliert und wird von ihm bis heute geleitet. Es findet alljährlich in (beratender) Kooperation mit der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung statt. Kuratiert wird es von einem Autor bzw. einer Autorin. Diesmal ist es Daniela Danz, die im vergangenen Jahr noch eine der geladenen Gäste der achten Poetica war. Zuvor hatten kuratiert: Michael Krüger, Ales Steger, Monika Rinck, Yoko Tawada, Aris Fioretos, Jan Wagner, Uljana Wolf und Christian Filips. Die Poetica wird finanziert durch die Universität zu Köln, das Ministerium für Kultur und Wissenschaft des Landes Nordrhein-Westfalen sowie die Kunststiftung NRW. Die Dramaturgie der Poetica liegt in den Händen von Michaela Predeick.
Das Buch zum Festival
erscheint im Konkursbuch Verlag und bietet Porträts und Texte von allen Mitwirkenden: „Nach der Natur – Imaginations of Nature Poetry“, hrsg. von Daniela Danz, Günter Blamberger und Michaela Predeick, 180 Seiten, 14 Euro.
