„Ich weiß noch, wie sie die Haustür aufbrachen und reinkamen“: Hilde Khnies Erinnerung an das Novemberpogrom im Jahre 1938 in der Kölner Benesisstraße – Ein Buchauszug

In Straßen wie diesen: Gunter Demnig bei der Verlegung des Stolpersteins für Hilde Khnie in der Benesisstraße in Köln. Der Künstler erinnert mit seinem herausragenden Projekt an die Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung. Foto: Bücheratlas

Als „Schicksalstag“ der Deutschen gilt der 9. November. Viele historische Daten lassen sich mit ihm in Verbindung bringen. Das schönste Gedenken gilt dem Mauerfall im Jahre 1989. Das dunkelste Ereignis, an das an diesem Tag erinnert wird, ist das Novemberpogrom von 1938. Damals gab es Tote und Verletzte, Synagogen wurden in Brand gesteckt und jüdische Einrichtungen angegriffen. An diese Eskalation des Antisemitismus muss immer wieder erinnert werden. Dass dies gerade in der Gegenwart von besonderer Relevanz ist, ist eine schockierende Erkenntnis.

Zum Tage stellen wir eine Passage aus dem Buch „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“ (mehr dazu HIER) vor. Petra Pluwatsch hat den Band für eine Buchreihe des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln geschrieben. Er ist in diesem Jahr im Metropol Verlag Berlin erschienen. Der Band widmet sich Personen, die den großen Opfergruppen zugeordnet werden können. Allen voran sind es Jüdinnen und Juden – darunter Hilde Khnie, die 1925 als Tochter von Saare und Benzion Helmreich in Köln geboren wurde. In einem langen Telefonat aus dem Jahre 2020 schilderte Hilde Khnie, in New York lebend, was ihr in Erinnerung geblieben ist.

Hier also einige Auszüge aus dem Kapitel „Meine Kindheit war schön – bis Hitler kam“. (BA)

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Reichskristallnacht.“ Selbst mehr als 80 Jahre später kann Hilde Khnie dieses Wort akzentfrei aussprechen. „Reichskristallnacht.“ Die Nacht vom 9. auf den 10. November 1938, als Männer in braunen Uniformen die schwere, hölzerne Eingangstür ihres Elternhauses in der Benesisstraße 38 aufbrachen und alles zerschlugen, was sie zu packen bekamen. Das Geschirr. Die Bilder und Möbel. Das Goldfischglas im Mädchenzimmer.

„Reichskristallnacht“ – die Nacht, in der Hilde Khnies Kindheit unwiderruflich endete.

Hilde Khnie, geborene Helmreich, seit 1946 in den USA zu Hause, ist eine Überlebende des Holocaust. Anders als ihr Vater Benzion Benno Helmreich, der 1940 im Konzentrationslager Buchenwald starb. Anders als ihre Schwester Erna, deren Spur sich 1944 in Auschwitz verlor. Anders als ihr Großvater Isaac Helmreich und die Tanten in Polen. Von den Schwestern des Vaters überlebte nur Tante Gisella. Sie fand Zuflucht in den USA. Das Schicksal von Paula und Rifka ist bis heute ungeklärt.

Geboren wird Hilde am 17. Juli 1925 in der Benesisstraße, einer ruhigen Wohn- und Einkaufsstraße in der Kölner Innenstadt mit bunt verputzten Häusern und kleinen Ladenlokalen. Schräg gegenüber der elterlichen Wohnung liegt die Buchhandlung Wolf Topilowski, die 1937 den Zusatz „jüdisch“ erhalten wird. Ein paar Häuser weiter befinden sich die Annahmestelle der Waschanstalt Peter Weiß und die Goldschmiedewerkstatt von Otto Neumann und Walther Salomon. Nummer 38 gehört Selig und Karoline Adler, einem jüdischen Ehepaar, das in der oberen Etage eine Privatpension führt. Im Erdgeschoss hat sich Hildes Vater kurz vor der Geburt seiner ersten Tochter mit dem Herren- und Damenkleidergeschäft Helmreich selbständig gemacht.

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Spätestens im Oktober 1938 können auch Hildes Eltern die Augen nicht mehr vor der politischen Wirklichkeit verschließen. In der Nacht des 28. Oktober werden im Zuge der sogenannten Polenaktion 17.000 Ostjuden festgenommen und nach Polen abgeschoben. Heinrich Himmler, Reichsführer SS und oberster Polizeichef, sieht in der Massendeportation eine Möglichkeit, mit einem Schlag Tausende polnische Juden loszuwerden. Auch Benzion Helmreich wird in dieser Nacht abgeschoben. Erst Anfang 1939 kehrt er zurück nach Köln – nur wenige Monate später wird er erneut festgenommen.

Auf die Polenaktion folgt knapp zwei Wochen später die Pogromnacht, die Reichskristallnacht, wie Hilde Khnie sie bis heute nennt. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 brennen in ganz Deutschland die Synagogen.

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Auch in Köln zerstören SA-Männer in einer konzertierten Aktion die jüdischen Bethäuser und setzen sie in Brand. Scheiben splittern, in der Hohe Straße liegen zentimeterhoch die Scherben. In letzter Minute kann die Thorarolle aus der Synagoge in der Glockengasse gerettet werden. Auch Benzion Helmreichs Textilgeschäft und die Jüdische Buchhandlung Wolf Topilowski werden verwüstet. „Ich weiß noch, wie sie die Haustür aufbrachen und reinkamen“ , schildert Hilde Khnie die Schreckensnacht. „Wir saßen im ersten Stock, im weißen Zimmer. Sie warfen das Glas mit den Goldfischen zu Boden. Überall lagen Goldfische herum und zappelten. Sie machten einfach alles kaputt.“

Den Rest der Nacht verbringt Hilde mit ihren Geschwistern und der Mutter bei jüdischen Bekannten. „Ich glaube, sie hießen Wunder und wurden ein paar Jahre später deportiert und getötet.“ Am nächsten Tag, vielleicht auch erst eine Woche nach der Pogromnacht, setzt Saare Helmreich die Kinder in einen Zug Richtung Belgien. Bloß weg aus Deutschland! (…)

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Hilde Helmreich gelingt 1938 die Flucht zu Verwandten in Belgien. Doch nach dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht 1940 kehrt sie zurück nach Köln. Ein Jahr später wird die Jugendliche mit Mutter und Schwester Erna vom Bahnhof Deutz-Tief ins Ghetto Litzmannstadt deportiert. Im Jahre 1944 weiter in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau, wo Erna ermordet wird. Wieder weiter ins Konzentrationslager Flossenbürg. Den Tod immerzu vor Augen. Im April 1945 eine weitere Odyssee ins Ghetto Theresienstadt. Wenige Tage später werden ihre Mutter und sie von der Roten Armee befreit. 1946 emigrieren sie in die USA.

Auf diesem Blog

haben wir den Band „Verfolgt und nicht vergessen“ HIER vorgestellt.

Petra Pluwatsch: „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“, Band 3 der Kleinen Reihe des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Metropol Verlag, 250 Seiten, 22 Euro.

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