
Am liebsten wäre ich Thomas Pynchon“, sagte Angelika Klüssendorf im Literaturhaus Köln bei der Vorstellung ihres Romans „Risse“ (Piper Verlag). Sie rede auch nicht gerne über ihre Bücher und würde lieber abtauchen. Ein Traum wäre es allerdings, einmal wie der US-Schriftsteller Pynchon bei den „Simpsons“ aufzutreten – mit einer Papiertüte überm Kopf. „Trotzdem kehre ich das Innerste nach Außen“, bekannte die Autorin mit Blick auf ihre Prosawerke. „Das ist ein Widerspruch – aber so ist es.“
„Mit Abscheu in der Stimme“
Mit einem Paukenschlag beginnt ihr autobiographischer Roman „Risse“. Nämlich mit der unterkühlten Nachricht vom Tod der Mutter vor zwei Jahren. Das Verhältnis der beiden zu Lebzeiten als gestört zu bezeichnen, ist das Mindeste, was man sagen kann. Gleichwohl stellt die Erzählerin überrascht fest: „Was ich nicht für möglich gehalten habe: Ich vermisse sie. Ich empfinde Trauer, doch meine Freude über die Trauer ist größer als die Trauer selbst.“
Angelika Klüssendorf wurde 1958 in Ahrensburg geboren, zog 1961 nach Leipzig und übersiedelte 1985 in die Bundesrepublik. Im Jahre 2004 ist ihr Erzählungsband „Aus allen Himmeln“ erschienen, damals noch bei S. Fischer, worin sie sich ihrer bitteren Kindheit widmet. Als die Mutter den Text gelesen hatte, sagte sie „mit Abscheu in der Stimme“: „Du hast schon immer gelogen.“ Nun stellt die Schriftstellerin fest, dass sie tatsächlich „Ereignisse ausgelassen oder falsch beschrieben“ habe: „Es gibt keine Wunden, die nicht verheilt wären, doch es gibt Leerstellen, die ich bis heute nicht zu betreten wagte.“
Mutter und Vater im Gefängnis
Jetzt aber wagt sie es. Deshalb werden die (miteinander verbundenen) Erzählungen mit Nachschriften versehen. Was es mit dieser Wiederbegegnung auf sich hat, schilderte die Autorin im sehr munteren und ergiebigen Gespräch mit Marion Brasch. Die Kollegin ist bestens vertraut mit DDR, Literatur und Familiengeschichten. Sie selbst ist in Ostberlin aufgewachsen und landete 2012 den Erfolgstitel „Ab jetzt ist Ruhe – Roman meiner fabelhaften Familie“ (S. Fischer). Zuletzt ist von ihr „Lieber woanders“ erschienen.
Die Leerstellen, die Angelika Klüssendorf in den Erzählungen von 2004 entdeckt hat, sind ihrer Auffassung nach aus Scham, aus mangelnder Selbsterkenntnis, aber auch aufgrund von Wissenslücken entstanden. So habe sie erst Jahre später erfahren, dass Vater und Mutter eine Weile im Gefängnis gesessen hatten, als sie ein kleines Kind war. Offenbar sei der Vater ein Doppelagent für Russen und Amerikaner gewesen. Allein schon diese Entdeckung, könnte man meinen, reiche aus für einen Roman. Aber dieses ist doch nur eine Facette in einem großen Seelen-Wirrwar aus Gewalt, Alkoholismus und Selbstmordversuchen.
„Alle Geschichten sind so von mir erlebt worden“
Angelika Klüssendorf redet nicht drum herum. „Risse“ sei ein autobiographischer Roman, sagt sie. „Alle Geschichten sind so von mir erlebt worden, aber sind fiktional, weil es eine Erinnerung ist.“ Die Erinnerung verändere sich, „weil wir von Tag zu Tag andere Menschen werden.“ Auch schreibe man im Sommer anders als im Winter.
Zwar liege der Schauplatz des Romans in der DDR, führte die Autorin aus. Doch was damals und dort passiert sei, könne überall und jederzeit passieren. Es sei eine universelle Geschichte: Szenen aus einer verunglückten Familie.
Bücher machen wie die Coen-Brüder ihre Filme
„Risse“ ist ein unerbittliches Buch. Schon die „alten“ Geschichten, die überarbeitet und neu arrangiert worden sind, lassen keinen Zweifel an existentieller Armut und seelischer Pein. Nun sorgen die vergleichsweise nüchternen Kommentare dafür, dass die Schraube des Schreckens noch etwas stärker angezogen wird. „Wenn ich heute Heimweh habe,“ heißt es einmal im Buch, „dann nach dem Zuhause aus meinen Kindheitsträumen.“ Nach dem Zuhause aus den Träumen. Nicht aus dem der Wirklichkeit. Denn das war ein kaltfeuchtes Verließ.
Von manchem mehr war an diesem starken Abend die Rede. Auch davon, dass Angelika Klüssendorf um 17 Uhr zu Bett geht. Sie liest dann bis 23 Uhr und gönnt sich kurz vorm Einschlafen einen Krimi, bei dem „die furchtbarsten Dinge geschehen, während ich in der Sicherheit meines Bettes liege.“ Weiter: Dass sie gerne Bücher machen würde wie die Coen-Brüder ihre Filme. Dass sie immer weiterschreiben müsse, um sich von dem Veröffentlichten zu lösen. Dass das nächste Manuskript schon 100 Seiten dick sei und es darin um eine Frau im Koma gehe, bei der irgendwann „der Stecker gezogen“ werde.
Jeder darf über alles schreiben
Die grassierende „Aufregungskultur“ gefällt ihr nicht. So dürfe doch jeder über alles schreiben, auch eine Westdeutsche über Ostdeutschland, also zum Beispiel Charlotte Gneuß einen Roman wie „Gittersee“, denn sonst wäre es auch nichts mit Kafka und Karl May. Entscheidend sei nur, ob das Werk gut sei, und wenn es Fehler habe, könnten die ja korrigiert werden. Schließlich noch Marion Braschs Frage, was Angelika Klüssendorf heute für ihre Eltern empfinde. Die Ein-Wort-Antwort: „Barmherzigkeit.“
„Das ist ein Roman, an dem man in diesem Jahr auf keinen Fall vorbeikommt“, hatte Literaturhaus-Leiterin Bettina Fischer zu Beginn der Veranstaltung gesagt. Tatsächlich stand „Risse“ auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis (wie zuvor schon „Das Mädchen“, „April“ und „Jahre später“). Allerdings hat es der Roman nicht auf die Shortlist geschafft. Dennoch handelt es sich hier um ein rundum bewegendes und verstörendes, also lesenswertes Buch. Eine Reise in die Kindheit als Geisterbahnfahrt.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Angelika Klüssendorfs Roman „Vierunddreißigster September“ HIER vorgestellt.
Angelika Klüssendorf: „Risse“, Piper, 172 Seiten, 22 Euro. E-Book: 18,99 Euro.

So ein intensives Buch. Ich freue mich schon auf die Mädchen-Trilogie. Denn die muss demnächst sein. Unbedingt!
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👍👍👍Sehe ich ganz genauso! Herzliche Grüße.
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