
Was ist hier los?“ Das war die Frage, die sich Kathrin Röggla stellte, nachdem sie im Jahre 2017 zum ersten Mal den NSU-Prozess am Oberlandesgericht in München von der Tribüne aus erlebt hatte. Ihr Eindruck: „Alles war so verkantet und verfahren und nichts im Fluss.“ Von der „vergifteten Atmosphäre“ sei sie „total überrascht“ gewesen.
Merkwürdige Streitereien
Zeitweise sei ihr der Prozess gegen die fünf Angeklagten aus dem „Nationalsozialistischen Untergrund“ wie ein „Schmierentheater“ vorgekommen – etwa wegen der „dramatischen Gesten“ der Beteiligten oder wegen der merkwürdigen Streitereien. Schließlich habe sie sich entschlossen, was zunächst gar nicht der Plan gewesen sei, am Prozess dranzubleiben und über all das Verbogene ein Buch zu schreiben. Herausgekommen ist dabei der Roman, den die Autorin nun im Gespräch mit Andreas Platthaus (FAZ) im Literaturhaus Köln vorstellte: „Laufendes Verfahren“ (eine Besprechung des Romans, der bei S. Fischer erscheint, findet sich auf unserem Blog genau HIER).
Nach dem ersten Besuch im Gerichtssaal 101 ist Kathrin Röggla noch häufig von Berlin aus zum Prozess nach München gereist. Auf der Tribüne habe sie nicht nur das Publikum kennengelernt, das sich im Laufe der Zeit zu einer Community entwickelte und das im Roman selbst eine zentrale Rolle spielt. Auch habe sie persönlich eine Sucht verspürt, nur ja nichts zu verpassen. Was bei einem derart komplexen Prozess eine besondere Herausforderung war. Immerhin lagen rund eine Million Akten auf dem Tisch. Bildlich gesprochen. Dabei den Überblick zu bewahren, ist ein Unmöglichkeit. Aber gerade das „Überfaktische“ habe auf sie einen Reiz ausgeübt.
Heilung bleibt aus
Und das Ergebnis? Das Ziel eines Prozesses sei nicht allein, stellte Kathrin Röggla im Literaturhaus fest, dass am Ende ein Urteil gesprochen werde. Auch gelte es, eine „Heilung“ in der Gesellschaft herbeizuführen. Zumal angesichts einer so langen Mordserie, die für Risse in der Gesellschaft gesorgt habe. Doch eine solche Heilung sei nicht gelungen. Der Prozess habe ein Ende gefunden, aber viele Fragen seien offengeblieben – nicht zuletzt zur Rolle des Verfassungsschutzes.
Es wäre naiv, sagte die Autorin, von der Ausnahme auszugehen, dass das Gericht losgelöst sei von der „politischen Mechanik“. Gleichwohl müsse man das Gericht ernst nehmen. Sonst sei man gleich bei den rechtsradikalen Stimmen, die über eine „Faschingsveranstaltung“ gelästert hätten.
Ein Preis ist sicher in diesem Jahr
„Laufendes Verfahren“ stand auf der Longlist zum Deutschen Buchpreis, hat es aber nicht auf die am Dienstag veröffentlichte Shortlist geschafft. Die nächste Auszeichnung steht dennoch fest: Kathrin Röggla erhält den Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln (und zur Jury gehörte Moderator Andreas Platthaus). Verliehen wird er in der Stadt, in der die Schriftstellerin an der Kunsthochschule für Medien (KHM) das Literarische Schreiben lehrt.
Dazu ein kleines Postscriptum: Aus einem Seminar, das Kathrin Röggla geleitet hat, ist soeben die sechste Ausgabe der Anthologie „Kurze“ hervorgegangen. Das Magazin der Kunsthochschule versammelt literarische Texte von Studierenden, die so vielstimmig wie – der Titel sagt es ja – kurz sind.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
findet sich eine Besprechung des Romans „Laufendes Verfahren“ genau HIER . Ein Bericht über eine Veranstaltung zum Buch, die in der Buchhandlung Klaus Bittner in Köln stattgefunden hat, gibt es HIER.
Das Magazin „Kurze“
gibt es kostenlos und kann über die KHM bestellt werden: verlag@khm.de .
Kathrin Röggla: „Laufendes Verfahren“, S. Fischer, 208 Seiten, 24 Euro. E-Book: 18,99 Euro.
