
So ganz geheuer ist Reiner Kunze der Wandel nicht, der sich um ihn herum ereignet. In „Bahnfahrt“, einem Gedicht aus dem Spätwerk, beobachtet er die Mitreisenden: „Mit hundert menschen, scheint’s, / reisen neunundneunzig handys / und ein buch.“ Was er davon hält, lasst sich denken.
Stasi fand das Versteck nicht
Käme es darauf, einen Vorschlag für dieses eine Buch im Zug zu machen, nennen wir zur Feier des Tages den Band mit den gesammelten Gedichten von Reiner Kunze. Die Ausgabe erscheint zum 90. Geburtstag des Dichters, der am 16. August 1933 in Oelsnitz im Erzgebirge als Sohn eines Bergarbeiters geboren wurde, Philosophie und Journalistik an der Karl-Marx-Universität in Leipzig studierte, der 1976 wegen seiner Prosasammlung „Die wunderbaren Jahre“ aus dem DDR-Schriftstellerverband ausgeschlossen wurde, im folgenden Jahr in die Bundesrepublik Deutschland übersiedelte und so ziemlich alle Preise erhalten hat, die mit ihm und seiner Kunst in Verbindung zu bringen sind, vorneweg der Georg-Büchner-Preis.
Die Neuausgabe der gesammelten „Gedichte“ enthält nun auch die beiden zuletzt erschienenen Lyrikbände „lindennacht“ und „die stunde mit dir selbst“, in dem sich auch die eingangs erwähnte „Bahnfahrt“ findet. Dort auch geht er der Frage nach „Wer bist Du, Dichter“. Konkreter gefasst: „Hast du der welt / an welt hinzugetan? Und was an welt?“ Gute Frage. Auf jeden Fall bekommt einjeder, der sich auf dieses lyrische Werk einlässt, einen intensiven Eindruck von den Zeitläuften. Fast möchte man sagen: Ein Jahrhundert wird besichtigt. Aber so alt ist Reiner Kunze nun doch nicht.
Der falsche Freund
Seit den 1950er Jahren, seit den frühen Gedichten, geht es mit Reiner Kunze durch die „wunderbaren“ Jahre. Zunächst einmal mitten hinein in die realsozialistischen Missstände. Zu Mauer und Überwachung und dem vor der Stasi versteckten Manuskript unter einer Wäschemangel: „Sicher vor / dem falschen brandschutzbeauftragten, / dem falschen prüfer der erdleitung, / dem falschen freund“. Dann weiter in den bundesdeutschen Alltag. Hinaus nach und nach Südkorea (mit dem Besuch einer „Megametropolenbuchhandlung“). Ins Kriegsgebiet in die Ukraine. Zu Altersfragen. In die digitale Unendlichkeit. Und immer wieder in die Dichtung – in die eigene und die der anderen (Lavant, Celan, Camus, Lenz, Handke …).
Der Geburtstags-Band bietet staunende und tastende, melancholische und ironische Beobachtungen eines Zeitgenossen als Lyriker. Sein Maßstab ist in dem Dreizeiler „Münze in allen Sprachen“ fixiert: „Wort ist währung // Je wahrer, / desto härter“.
Martin Oehlen
Reiner Kunze: „Gedichte“, S. Fischer, 494 Seiten, 30 Euro.

Nicht vergessen sollte man seine „Denkschrift“ gegen die als „Rechtschreibreform“ camouflierte Sprach- und Vorstellungsverhunzung.Sie muss ihm vorgekommen sein, als habe er die alte Heimat DDR ein Stück weit in den Westen mitgenommen.
Und nicht vergessen kann man, was Biermann 1976 in der Sporthalle über ihn sagte: Er ist mein Freund, nicht mein Genosse.
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