Bildungsroman eines Diplomaten: Amélie Nothomb erzählt in „Der belgische Konsul“ die bewegende Geschichte ihres Vaters

Patrick Nothomb wächst in Brüssel auf. Foto: Bücheratlas

Wieviel Leben bleibt ihm noch? Zwölf Gewehre sind auf den belgischen Generalkonsul in Stanleyville gerichtet. Zwölf Gewehre, die zwölf tödliche Kugeln enthalten. „Grauen und Ungeduld“ wüten in Patrick Nothomb, 28 Jahre alt und Vater eines kleinen Sohnes. „Der Tod ist Achill, ich bin die Schildkröte: Seit einer Ewigkeit erwarte ich den Tod. Wird er mich einholen?“.

Von Brüssel nach Stanleyville

Im August 1964 war der Diplomat in Stanleyville, dem heutigen Kisangani im Norden der Demokratischen Republik Kongo, gemeinsam mit 1500 anderen Personen von Aufständischen als Geisel genommen worden. Nach monatelangen Verhandlungen mit den Rebellen drohte man, ihn zu erschießen – vermutlich eine Machtdemonstration der Revolutionären Befreiungsarmee. Im Jahre 1993 hat Patrick Nothomb seine Erlebnisse in einem Buch unter dem Titel „Dans Stanleyville“ verarbeitet. Das wiederum eingeflossen ist in den jüngsten Roman seiner Tochter Amélie, „Der belgische Konsul“, einem bewegenden Werk über die frühen Jahre des 2020 verstorbenen Diplomaten.

Amélie Nothomb, 1967 in Japan geboren, gehört zu den bekanntesten französischsprachigen Autorinnen und Autoren der Gegenwart. Ihre mehrfach preisgekrönten Romane – „Mit Staunen und Zittern“, „Der japanische Verlobte“, „Blaubart“ – erreichen Millionenauflagen und sind in über 40 Sprachen übersetzt. „Der belgische Konsul“, 2021 unter dem Titel „Premier sang“ erschienen, wurde im selben Jahr mit dem französischen Literaturpreis „Prix Renaudot“ ausgezeichnet. Amélie Nothomb schildert darin den Lebensweg ihres Vaters bis zu den letzten Sekunden vor seiner vermeintlichen Exekution.

Die Gleichgültigkeit der Mutter

Amélie Nothomb erzählt die Geschichte aus der Perspektive des jungen Protagonisten und lässt ihre Leserinnen und Leser auf diese Weise hautnah an dessen Staunen über die Wunder des Lebens teilhaben. Baron Patrick Nothomb stammt aus einer alteingesessenen belgischen Familie. Als er acht Monate alt ist, kommt sein Vater bei einem Unfall ums Leben. Der Berufssoldat war bei einer Übung zum Minenräumen auf eine scharfe Mine getreten.

Die verwitwete Mutter, eine herbe Schönheit aus Brüssels besten Kreisen, begegnet ihrem einzigen Kind allenfalls mit Gleichgültigkeit und schiebt es schließlich zu den Eltern ab. „Die Vorstellung, dass sie die Liebe zu ihrem Mann durch die Liebe zu einem Kind ersetzen sollte, empörte sie.“

Ferienbesuche beim strengen Großvater

Es wird lange dauern, ehe Patrick begreift, dass er von der eleganten Salondame, die sich seine Mutter nennt, weder Liebe noch Wärme zu erwarten hat. Jeden Sonntag schaut Claude Nothomb für ein, zwei Stunden bei ihm vorbei, Stippvisiten, die den Sohn umso einsamer zurücklassen. „Sie hatte ihre spezielle Art, eine Umarmung zu vermeiden, indem sie mir die Hände entgegenstreckte, um mich dann nicht hochzuheben. Ob sie Angst hatte, ihre schöne Toilette zu ruinieren?“

Zu den Highlights von Patricks Kindheit zählen die Ferienbesuche bei seinem autoritären Großvater väterlicherseits. Pierre Nothomb ist Dichter und lebt mit seiner zweiten Frau und sieben Kindern auf einem heruntergekommenen Schloss in den Ardennen. Unter seiner Knute soll Patrick lernen, ein „richtiger“ Junge zu werden.

Kinderbande im Winterwald

Der Kontrast zu seinem behüteten Leben in Brüssel könnte in der Tat nicht größer sein. Das „Weichei“ aus der Stadt erlebt eine dysfunktionale Großfamilie, in der allein das Recht des Stärkeren zählt. Dennoch genießt Patrick das Leben mit den verwahrlosten Halbgeschwistern, ist er doch zum ersten Mal in seinem Leben Teil einer Gemeinschaft.

Kreischend tobt er mit der Kinderbande durch den winterlichen Wald und schiebt ohne zu murren Kohldampf, wenn abends das Essen nicht für alle reicht. „Diese Tage, die wir damit verbrachten, auf dem in den Wald geschmiegten See eiszulaufen oder die schneebedeckten Wege entlangzustapfen, versetzten mich in ein nicht enden wollendes Entzücken.“

Patrick bietet Paroli

Mit feinem Humor schildert Amélie Nothomb die Entwicklung ihres Vaters vom schüchternen Jungen zu einem selbstbewussten jungen Mann, der sich mehr und mehr gegen die verknöcherte Denkweise der vorherigen und vorvorherigen Generation stemmt. Als Großvater Pierre seine Zustimmung zur Hochzeit seines ältesten Enkels und Erben mit einer angeblich nicht standesgemäßen Frau verweigert, bietet Patrick dem Alten mit harschen Worten Paroli.

So ist „Der belgische Konsol“ weit mehr als eine intime Familiengeschichte. Dieser Roman ist ein fein ziseliertes Zeit- und Sittengemälde, hervorragend geschrieben und stellenweise zu Herzen gehend traurig.

Petra Pluwatsch

Amélie Nothomb: „Der belgische Konsul“, dt. von Brigitte Große, Diogenes, 142 Seiten, 23 Euro. E-Book:19,99 Euro. 

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..