Auf den Spuren von Wilhelm Joest: Anne Haeming nähert sich in zwei Bänden der Biografie des Weltreisenden und Ethnologen  

Blick auf den Reisspeicher aus Indonesien, der den Weg zum Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln weist. Foto: Bücheratlas

Wer war Wilhelm Joest? Anne Haeming widmet sich dieser Frage in gleich zwei Bänden, die bei Matthes & Seitz erscheinen. Zum einen in der eigenwilligen Biografie „Der gesammelte Joest“, zum anderen in einem anregenden Quellenband, den die Berliner Kulturjournalistin gemeinsam mit Carl Deußen herausgegeben hat: „Aus Indien nach Santa Cruz durch die Ethnologie“ (womit der Joest-Titel „Aus Japan nach Deutschland durch Sibirien“ von 1882 variiert wird).

Grundstock für das Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln

Mal kurz zur Person! Wilhelm Joest wurde 1852 in Köln als Sohn eines Zuckerfabrikanten geboren. Er war ein Sammler und weltweit Reisender, ein Ethnograph und Ethnologe, also einer, der dokumentiert, und einer, der daraus seine Schlüsse zieht. Die entscheidende Anregung, „viel zu sammeln“, sei von Adolf Bastian gekommen, dem Gründungsdirektor des Königlichen Museums für Völkerkunde in Berlin.

Rund 3500 Objekte, die Wilhelm Joest von seinen Fernreisen nach Deutschland mitgebracht hat, überließ er seiner Schwester Adele Rautenstrauch. Diese bildeten den Grundstock für das im Jahre 1906 eröffnete Rautenstrauch-Joest-Museum (RJM) am Ubierring in Köln. Das Museum trägt seit seiner Neueröffnung an der Cäcilienstraße im Jahre 2010 den Zusatz „Kulturen der Welt“.

„Hurenhäuser“ und „entscheidende Leute“

Sonst noch was? Wilhelm Joest sei „gierig nach Anerkennung“ gewesen. Er habe gerne und viel getrunken und gegessen. In jeder neuen Stadt kannte er schnell die „Hurenhäuser“ und „die entscheidenden Leute“. Er sei „ausdauernd, neugierig und etwas ordinär“ gewesen.

Dieser Wilhelm Joest steht nach Ansicht von Anne Haeming „pars pro toto für eine zentrale forschungs- und weltpolitische Ära Deutschlands“, nämlich jener des Imperialismus und des Kolonialismus. Zudem habe er mitgewirkt, „imperiale und koloniale Überzeugungen“ zu formen und zu festigen. So weit, so schillernd, so spannend.

Das Leben als Collage

Allerdings liegt hier keine kontinuierlich erzählte, komplexe Lebenswege sortierende, alle wesentlichen Stationen erfassende Biografie vor. Vielmehr hat sich die Autorin für eine „Collage“ rund um ausgewählte Objekte aus seiner Sammlung entschieden. So werden Aspekte zu Leben und Werk gleichsam in Vitrinen ausgestellt. Zweifelsohne hat Anne Haeming im Rahmen des Forschungsprojekts zu Wilhelm Joest am Rautenstrauch-Joest-Museum, das von der Fritz Thyssen Stiftung finanziert worden ist, eine Menge Material gesichtet. Wer an der Vita, an der Kulturgeschichte und dem neuen Blick auf die Ethnologie interessiert ist, wird hier einigen Honig saugen können. Gleichwohl geht es in „Der gesammelte Joest“ nicht um „letzte Wahrheiten“. Die Biografin strebt vielmehr nach einem Erzählen, „das sich überlappt, damit ein Dazwischen entsteht.“ Verläufe, Entwicklungen und Zusammenhänge muss sich die Leserschaft oft selbst zusammenreimen. Das ist vielleicht ein pädagogisch belastbarer Ansatz. Allerdings dient er dem Lesevergnügen nur bedingt.

Wilhelm Joest selbst hat sein Sammlerleben intensiv dokumentiert. In Reportagen für die „National-Zeitung“ und die „Kölnische Zeitung“ (gelegentlich ist im Buch von „Kölner Zeitung“ die Rede, was wohl ein Versehen ist), in Tagebüchern und Briefen, in wissenschaftlichen Aufsätzen und in acht Büchern. Übers Tätowieren habe er ein Standardwerk geschrieben, sagt Anne Haeming, das sie als „gründlich recherchiert“ würdigt. (Er selbst hatte sich zwei Tattoos stechen lassen, eine lächelnde Asiatin und einen Drachen.)  

„Der Heide nicht schlechter als der Christ“

Wilhelm Joest war fest eingebunden in den brutalen Kolonialismus des Deutschen Kaiserreiches, in widerlichen Rassismus und Antisemitismus. Das findet sich alles in seinen Werken. So verharmlost er die Brandzeichen, die Sklaven in Guyana nach Fluchtversuchen verpasst werden. Wilhelm Joest meint: Die Schmerzhaftigkeit sei „ja Null im Vergleich“ zu jener, die sie in ihrer afrikanischen Heimat „freiwillig aus Eitelkeit oder weil es einmal so Mode ist“ ertragen. Auch hat offenbar seine Gewalttätigkeit gegen Clara vom Rath dazu geführt, dass die Ehe 1896 geschieden wurde. Er war also gewiss kein Charmebolzen, aber auch kein nur tumber Zeitgenosse.

Dafür steht seine offenkundige Neugierde auf andere Menschen und Lebensweisen. Weiter formulierte er da und dort Kritik an der Kolonialherrschaft. In Indonesien hält er die Praxis der holländischen Machthaber für „bedenklich“, weil „mit Sklaverei verwandt“. Zur Missionsarbeit stellt er fest: „Die Bekehrung zum Christentum halte ich für ziemlich irrelevant, so lange ein Götzendienst nicht blutig oder unzüchtig, ist der Heide wohl nicht schlechter als der Christ.“

„Durchaus ungewöhnlich“

Auch Anne Haeming findet Positives. Sie stellt fest, dass es Wilhelm Joest im Bericht über seine Afrika-Reise (1884/1885) „an manchen Stellen“ gelinge, „innezuhalten und die europäische Perspektive zu hinterfragen.“ Dort äußert er sich unter anderem kritisch über die Arbeitsverhältnisse in der Kimberley-Mine: Die Arbeiter führten „ein hartes Dasein“, sagt er. Eine Stunde Zeit bleibe ihnen pro Tag, um aus der Mine zu ihren Baracken zu klettern, dort ihr Essen zuzubereiten und zu verspeisen und rechtzeitig wieder an die Arbeitsplätze zurückzukehren.

Zudem bemerkt die Biografin anlässlich seiner Reise zu den Santa-Cruz-Inseln in Melanesien im Pazifik, sein Ansatz sei „durchaus ungewöhnlich“ gewesen: „Er wollte nicht nur schnell möglichst viele und repräsentative Objekte sammeln und dann weiterreisen, sondern längere Zeit an einem Ort bleiben, um umfangreichere Informationen über die erworbenen Objekte zu erlangen.“

Diskretion erwünscht: Im Rautenstrauch-Joest-Museum geht es hinterm Fadenvorhang zu einer Ahnen-Gruppe aus Indonesien. Foto: Bücheratlas

Kritik an der Wissenschaft

Allerdings hat Wilhelm Joest keinen leichten Stand bei Anne Haeming. Gelegentlich wähnt man die Autorin auf der Suche nach dem Haar in der Suppe. Dass der Reisende Joest unter einer Fotografie vermerkt, es handele sich um eine „Straße in Lindi“, führt zu dem Vorwurf, er erwähne nicht die Menschen, die dort auf der Straße der tansanischen Küstenstadt zu sehen sind. Als von Sulawesi die Rede ist, verweist sie darauf, dass Joest die Insel „noch“ Celebes genannt habe. Allerdings stand er damit nicht allein. Erst mit der Unabhängigkeit von den Niederlanden im Jahre 1945 wurde der Name Sulawesi amtlich.

Hinter seiner Bemerkung, er habe nicht das Anrecht, als „Afrikareisender“ bezeichnet zu werden, vermutet sie Koketterie, Rhetorik oder Tiefstapeln. Dass er tatsächlich der Meinung gewesen sein könnte, dass der Kontinent für ein Individuum nicht so einfach zu erfassen sei, erwägt sie offenbar nicht. Und seine Kritik an einer Wissenschaft, die die notwendige Fremdsprache nicht beherrscht, wird von ihr kleingeredet: „als betreibe Joest Wissenschaftskritik, schon 1888“. Nein, nicht „betreibe“, sondern „betreibt“ wäre richtig.

„Zensiert oder gar nicht“

Seine „Schreibe“ sei „reportagig“ gewesen, sagt die Autorin. Ihre ist es auch. Zumal dann, wenn sie die Erkundungstouren im Depot des Rautenstrauch-Joest-Museum schildert: Eine Sammlungsreferentin „zieht die graue Wolljacke enger um sich“, denn die Temperatur liege bei 20 Grad, aber „es fühlt sich kühler an.“ Wenn es nicht „reportagig“ zugeht, wird es auch mal verstiegen: „Joest trägt so eine Geschichte in Schichten zusammen: Sedimentschichten an Bedeutung, von Sein und Schein, von Identität und Image. Das Darunter und das Darüber, wie ein Perlengürtel unterm Stofftuch.“

Dass den Texten des Ethnologen eine Sprache eigen ist, die nicht aus unserer Zeit stammt, macht Anne Haeming in Wort und Druckbild deutlich. Wann immer Wilhelm Joest rassistische Begriffe „in ihrem historischen Kontext“ benutzt, hält sie es für geboten, diese heute „zensiert oder gar nicht“ zu verwenden. Sie bekennt sich zu einer „visuellen kritischen Distanzgeste“ – und streicht die einschlägigen Begriffe durch. (Ein doppelt durchgestrichenes Wort bedeutet hingegen, dass Wilhelm Joest selbst dieses im Tagebuch einmal durchgestrichen hat.)

Das Grab auf Ureparapara

Das N-Wort und das I-Wort stehen selbstverständlich auf dem Index. Aber auch „Wildnis“ und „Tropen“. Allerdings mangelt es an Konsequenz. Mal ist die „Völkerkunde“ frei einsehbar, mal sind ihre ersten beiden Silben durchgestrichen, mal bleibt „Volk“ unbehelligt, aber dann wieder nicht in „Volkstrachten“ oder „Naturvolk“. Auf derselben Seite bleiben die „Eingeborenen“ unberührt, aber nicht das Adjektiv in „die eingeborenen Fürsten“. „Sklaverei“ oder „versklavt“ ist schreibbar, aber „Sklavenhandel“ nur mit einem Strich durch die erste Worthälfte. Bei „Steinwerkzeugen primitivster Art“ wird das Adjektiv als rassistisch markiert.

Wilhelm Joest starb 1897 im Inselreich Vanuatu im Südpazifik und wurde dort auf Ureparapara beigesetzt. Im Tagebuch von dieser letzten Reise, auszugsweise nachzulesen im Quellenband, schreibt der Ethnologe über die Bevölkerung: „Es ist doch merkwürdig, dass diese Kerle nicht auf den Gedanken kommen uns totzuschießen.“ Nach imperialer Überheblichkeit klingt dies nicht. Eher nach einem realistischen Blick auf ein koloniales System der Unterdrückung und Ausbeutung, das nicht von Dauer sein konnte.

Martin Oehlen

Anne Haeming: „Der gesammelte Joest – Biografie eines Ethnologen“, Matthes & Seitz, 304 Seiten, 25 Euro.

Carl Deußen und Anne Haeming (Hrsg.): „Aus Indien nach Santa Cruz durch die Ideologie – Fragmente des Forschungsreisenden Wilhelm Joest“, Matthes & Seitz, 256 Seiten, 28 Euro.

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