Neuer Band des NS-Dok in Köln über Schicksale hinter den Stolpersteinen: „Verfolgt und nicht vergessen“ von Petra Pluwatsch wird am Samstag vorgestellt

Hilde Spier in ihrem Redaktionsbüro bei der „Kölnischen Illustrierten Zeitung“ um 1926. Sie wurde am 2. September 1942 von Südfrankreich in das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert. Vermutlich ist sie unmittelbar nach der Ankunft vergast worden. Foto: NS-Dok Köln, N 2342,45 / Familienbesitz

Der Künstler Gunter Demnig erinnert mit seiner Aktion „Stolpersteine“ an Menschen, die dem Terror der Nationalsozialisten zum Opfer gefallen sind. Dieses herausragende Mahnmal der dezentralen Art wächst seit 1996 Stein um Stein in vielen Ländern. Kürzlich erst ist der 100.000 Stolperstein verlegt worden. Die quadratischen Objekte sind mit Messinghauben versehen, auf denen Name, Lebensdaten und das jeweilige Schicksal vermerkt sind: Verfolgt, vertrieben, deportiert, ermordet.

Buchvorstellung im NS-Dokumentationszentrum

Doch welche Lebenswege sind damit verbunden? Wo wuchs die Person auf, wie lebte sie, was musste sie erleiden? Solchen Fragen widmet sich ein neuer Band der Schriftenreihe des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln: „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“. Autorin Petra Pluwatsch, lange Zeit Chefreporterin des „Kölner Stadt-Anzeiger“ und nun unter anderem hier auf dem Blog Bücheratlas aktiv, erinnert an einige ausgewählte Lebensläufe.

Die Autorin präsentiert den Band am kommenden Samstag, 17. Juni 2023, um 16.30 Uhr im EL-DE-Haus am Kölner Appellhofplatz. Dort tritt sie auf mit Annemone Christians-Bernsee, der stellvertretenden Direktorin des Hauses, und Ibrahim Basalamah, Dokumentar beim NS-Dok und zuständig für die Bildredaktion des Buches.

Nur wenigen gelang die Flucht

„Verfolgt und nicht vergessen“ erscheint im Berliner Metropol Verlag. Der Band  widmet sich Personen, die den großen Opfergruppen zugeordnet werden können. Allen voran sind es Jüdinnen und Juden, denen mehrere Kapitel gewidmet sind. Außerdem kommen Lebenswege von politisch und religiös Verfolgten, von Menschen mit Behinderungen, Homosexuellen, Roma und Sinti sowie von Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeitern zur Sprache. Ausdrücklich geht es in einigen Fällen auch um solche Opfer, von denen nur wenige Lebensspuren überliefert sind.

Erzählt wird also die Vita, die mit dem jeweiligen Stolperstein verbunden ist. Es soll möglichst deutlich werden, wie das Leben vor der Zäsur verlief, also bis zu jenem Moment, da der Terror der Nazis in den Alltag der Menschen einschoss. Und wie es danach weiterging. Manchen Verfolgten gelang die Flucht ins Ausland. Doch die meisten fielen der NS-Vernichtungsmaschinerie zum Opfer.

Fatale Begegnung an einer Haltestelle der Linie 13

Die ausgewählten Stolpersteine liegen allesamt in Köln – doch sie verweisen auf Schicksale, die so ähnlich auch an vielen anderen Orten erlebt und erlitten wurden. Drei Jahre lang wurde dafür recherchiert, im Bundesarchiv in Berlin und im Bundesarchiv in Koblenz, im Gespräch mit Nachfahren und Fachleuten, in Bibliotheken und alten Adressverzeichnissen, in überlieferten Briefen und Tagebüchern – und nicht zuletzt im Dialog mit dem Team des NS-Dokumentationszentrums in Köln. An wen erinnert wird?

An Mathilde Joseph aus dem legendären Schuhhaus Joseph, die in der Nacht vor der Deportation aus einem Ghettohaus in der St. Apern Straße in den Tod springt.

An die Kinder Gertrud und Hugo Rose, die aus einer Sinti-Familie stammen und aus einem Kölner Kinderheim nach Auschwitz-Birkenau deportiert und ermordet werden.

An Max Zienow, der wegen einer kritischen Bemerkung über Adolf Hitler, die er angeblich an einer Haltestelle der Straßenbahnlinie 13 äußert, von einer alten Bekannten denunziert wird, was letztlich zu seiner Hinrichtung führt.

An Hilde und Carl Ludwig Spier, die beim Abtransport ins Transitlager Drancy in Südfrankreich einen Brief an eine Verwandte aus dem Fenster werfen mit der „letzte(n) Bitte“, sich um die Kinder zu kümmern: „Säume nicht, leb wohl“.

An Johanna Lenz, die als „geisteskrank“ in die Rheinische Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt in Bonn eingeliefert und in der NS-Tötungsanstalt Hadamar ermordet wird.

An Klara und Fitz Stoffels, die als Zeugen Jehovas ihren Glauben nicht verleugnen wollen: „Ich weiß, wofür ich meine Leben gebe.“

An Heinrich Hubert Malmedy, der als Homosexueller ins Visier der Nazi gerät, als „Asozialer“ und „Arbeitsscheuer“ verurteilt wird und im KZ Dachau stirbt.

An Max Ichenhäuser, dem die Flucht über England in die USA gelingt, wo er allerdings bald schon stirbt.

An Julie Meyer, die 1942 mit dem letzten großen Deportationszug von Köln nach Theresienstadt gelangt und von der es nach dem Ende der Nazi-Herrschaft in einem Familienbrief heißt: „Von Julla kam kein Lebenszeichen mehr.“

An die Zwangsarbeiterin Nina Sawina, die aus Stalino in der Ukraine stammt und deren Erschießung im Februar 1945 vom zuständigen Kriminalkommissar zynisch kommentiert wird.

An den Pferdehändler Jakob Stock, Vater von fünf Kindern, der aus dem Dorf Lommersum in die Stadt Köln gezogen und von dort nach Treblinka deportiert worden ist.

Schließlich erinnert der Band an Hilde Helmreich, die mehrere Lager überlebt hat und die der Autorin kurz vor ihrem 95. Geburtstag sagte, sie habe „ein gutes Leben“ gehabt. Nur eines sei ihr nicht gelungen: zu vergessen, was damals geschehen sei.

Die „eindrücklichen biografischen Skizzen“, schreibt Henning Borggräfe im Vorwort, „leisten eine wichtige Ergänzung zum Gedenken an diese Menschen durch die Stolpersteine im Stadtraum.“ Weiter äußert der Direktor des NS-Dok den Wunsch, dass dieses Buch seine Leserinnen und Leser dazu anrege, sich selbst auf die Spur nach den Lebensgeschichten zu machen oder weitere Stolpersteine dem dezentralen Kunstwerk hinzuzufügen.

„Verfolgt und nicht vergessen“ will Fakten bieten gegen das Vergessen. Wer die Verbrechen der Vergangenheit im Bewusstsein behält, so die Hoffnung, mehrt die Chance, dass sie nicht wiederholt werden.

(BA)

Buchvorstellung

im NS-Dokumentationszentrum in Köln (EL-DE-Haus, Appellhofplatz 23-25) am 17. Juni um 16.30 Uhr. Im Erzählcafe II sprechen Annemone Christians-Bernsee, stellvertretende Direktorin des Hauses, Ibrahim Basalamah, Dokumentar beim NS-DOK und zuständig für die Bildredaktion des Buches, und Autorin Petra Pluwatsch. Der Eintritt ist frei.

An diesem Tag stellt sich das NS-Dok, ein Museum der Stadt Köln, mit seinen neuen Räumen vor. Nun können auch die dritte und vierte Etage des EL-DE-Hauses genutzt werden. Veranstaltungen gibt es von 11 bis 24 Uhr. Der Eintritt ist frei.

Petra Pluwatsch: „Verfolgt und nicht vergessen – Geschichten hinter den Stolpersteinen“, Band 3 der Kleinen Reihe des NS-Dokumentationszentrums der Stadt Köln, Metropol Verlag, 250 Seiten, 22 Euro.

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