
Norbert Hummelt registriert es „mit Erschrecken“! Erstmals legt der Lyriker einen Band vor, in dem es kein Köln-Gedicht gibt. Aber immerhin: In „Hellichter Tag“ kommt ein Kölsch vor, und Lukas Podolski schießt zwei Tore. Das Buch erscheint offiziell am 12. November, doch schon jetzt gab es die Premiere beim Anderland-Festival in der Kölner Stadtbibliothek. Dabei handelt es sich um eine Poesie-Veranstaltung, die zum sechsten Mal stattfand und von der Buchhandlung Klaus Bittner, dem Literatur-in-Köln Archiv von Gabriele Ewenz und dem Institut für Deutsche Sprache und Literatur I der Universität zu Köln rund um Christof Hamann betreut wird.
Galt der erste Abend des Festivals dem Werk des Wieners Ernst Jandl, der vor 100 Jahren geboren wurde, so stand der zweite Abend – nicht offiziell, aber inoffiziell – im Zeichen der neuen Verse von Norbert Hummelt. An seiner Seite war Kerstin Hensel zu erleben, die aus ihren Büchern „Schleuderfigur“ (2016) und „Cinderella räumt auf“ (2021) las und einen Ausflug zu Märchen und Schlagzeilen unternahm. Hensel wurde 1961 in Karl-Marx-Stadt geboren, Hummelt 1962 in Neuß. Beide leben heute in Berlin und veröffentlichen im Luchterhand Literaturverlag.
„da saß sie dann mit der lesebrille“
Norbert Hummelts neue Gedichte sind einerseits von sanfter Melancholie durchsetzt. Da scheint die Erinnerung auf an den Vater („einmal als dann das / unwetter kam hat er mich unter dem felsen verborgen“) und an die Mutter („da saß sie dann mit der lesebrille / saß u. las im liboriusblatt / oder vielleicht in der neuß-grevenbroicher“). Aber auch an den Onkel wird erinnert: „gewisse / sätze u. wie er sie sagte höre ich bis auf den heutigen tag.“
Andererseits ist dem Autor neben der Melancholie auch der Schalk vertraut, der in seinem Nacken sitzt. So ist „Dichtung“ der Titel eines Gedichts, der selbst schon von schöner Mehrdeutigkeit ist: „sieh da! sieh da, timotheus, sagte / der klempner, weniger zu mir als / zu sich selber, als er den schlauch / der spülmaschine untersuchte.“ Ja, wieso denn „Timotheus“, will das lyrische Ich wissen. Na, „Die Kraniche des Ibykus“, lautet die Antwort. Der Klempner zeigt sich verwirrt ob der Frage nach Schillers Ballade: „kopfschüttelnd beinahe, als wollte er / mir zu verstehen geben: wie kann / es sein, daß man so etwas nicht weiß?“

„die tassen von ingo schulze“
Lustig sind auch „die tassen von ingo schulze“. Da heißt es im keinesfalls hohen, sondern eher saloppen Ton: „wie klasse ließ sich aus den tassen trinken, wie lecker / ließ sich von den tellern essen!“. Und „erschreckend aktuell“, so sagte es der Buchpremierenautor, sei das Gedicht „freue dich“. Schon zuckt man zusammen, weil nun wohl die lyrische Auseinandersetzung mit Krieg oder Klimakatastrophe ansteht. Doch tatsächlich sind die sich rapide nähernden Festlichkeiten gemeint: „bei uns lagen immer die nerven blank / wenn es galt, einen baum zu besorgen.“
Zwischen der Melancholie und dem Schalk findet auch die Vergänglichkeit ihren Platz. Davon ist da und dort im siebten und finalen Kapitel die Rede. Bevor Norbert Hummelt das Gedicht „herzfinsterniß“ vorträgt, verweist er darauf, dass ihn zuweilen Songs zum Schreiben inspirieren. Also lobt er einen Wettbewerb aus: Wer den der „herzfinsterniß“ zugrundeliegenden Song erkenne, dem werde eine spezielle Widmung ins neue Buch geschrieben.
„ein mini bißchen angst“
Los geht’s: „dreh dich um: ab u. an bin ich ein mini bißchen dumm / u. denk die besten jahre sind vorbei .. dreh dich um: ab / u. an hab ich ein mini bißchen angst“ Und siehe da – ein Besucher hat sofort „Total eclipse of the heart“ von Bonnie Tyler auf den Lippen: „Turn around / Every now and then I get a little bit nervous / That the best of all the years have gone by / Turn around“. Bruce Springsteens Song „Thunder Road“ hingegen, dem das nächste Gedicht verbunden ist, hat niemand auf dem Schirm beziehungsweise im Ohr. Da muss der Boss nun durch.
„Anderland“ geht weiter. Diese frohe Botschaft teilte Christoph Danne von der Buchhandlung Bittner zum Ende mit. Im Frühjahr mit neuen Stimmen und neuen Texten.
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir über das Anderland-Festival schon mehrfach berichtet (leicht auffindbar über die Suchmaske und das Stichwort Anderland). Zuletzt ging es HIER um Marcel Beyers Würdigung des Spätwerks von Friederike Mayröcker.
Norbert Hummelt: „Hellichter Tag“, Luchterhand Literaturverlag, 112 Seiten, 20 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
