
Von Jenny Erpenbeck heißt es zuweilen, dass ihr Werk im Ausland populärer sei als in Deutschland. Ob das so stimmt, darf bezweifelt werden. Immerhin ist sie hierzulande vielfach geehrt worden. Gleichwohl ist ihre Reputation jenseits der Bundesgrenzen erheblich. Das hat seinen bislang deutlichsten Ausdruck in der Zuerkennung des International Booker Prize für „Kairos“ im vergangenen Jahr gefunden (gemeinsam mit Michael Hofmann, der den Roman ins Englische übertragen hat).
Vor zwei Wochen ist „Kairos“ auch in Frankreich erschienen. Nun war die Autorin in Paris zu Gast, um diese Geschichte einer toxischen Beziehung vorzustellen. An gleich drei aufeinanderfolgenden Tagen waren die Reihen dicht besetzt. Zunächst in der deutsch-französischen Buchhandlung „Le neuvième pays“ von Sophie Semin Handke in St. Germain, dann im Maison de la Poésie im Marais und schließlich im Goethe-Institut am Boulevard d’Iéna.
Sie ist 19, er 53 Jahre alt
Auf dieser dritten Station schilderte Jenny Erpenbeck, 1967 in Ost-Berlin geboren, wie sie den Weg von der Regiearbeit zur Schriftstellerei gefunden hat. Erst sei es ein schleichender Übergang, dann eine pragmatische Entscheidung gewesen. Als ihr Sohn geboren wurde, habe sie bereits vom Schreiben leben können – das war günstig. Denn als junge Mutter sei es nicht so einfach, für eine Inszenierung sechs Wochen außer Haus zu sein. Da sei die Arbeit am heimischen Schreibtisch vorzuziehen.
„Kairos“, wie in der griechischen Mythologie der Gott des glücklichen Augenblicks heißt, erzählt eine Paargeschichte aus der Endzeit der DDR. In Ost-Berlin lernt die 19 Jahre alte Katharina im Bus der Linie 57 den 53 Jahre alten Hans kennen, „der noch unter Hitler laufen lernte“. Während dem Mann die Erfahrungen mit Nationalsozialismus und Stalinismus in den Knochen stecken, ist sie „ein Produkt dieses Staates“ und „noch ein unbeschriebenes Blatt“.
„Das Experiment schlägt fehl“
Es entwickelt sich eine Beziehung, in der Hans mehr und mehr Druck aufbaut, vielfach übergriffig wird, Machtspiele spielt. Er möchte Katharina als „idealen Menschen“ erschaffen, sagt Jenny Erpenbeck, „und das Experiment schlägt fehl.“ Die Autorin empfiehlt: „Man muss dieses Buch unbedingt jungen Mädchen zu lesen geben.“
Moderatorin Katja Petrovic meinte, im Werk der Autorin besonders viel politische Geschichte wahrzunehmen. Was Jenny Erpenbeck nicht weiter verwunderte. „Es gibt kein Leben außerhalb der Geschichte“, sagte sie. Im Übrigen sei die Geschichte ihrer Familie – wie die vieler anderer Familien – eng verwoben mit den historischen Ereignissen der Vergangenheit. „Das ist wohl in der Mitte Europas einfach so.“
Erinnerung an den Laufmaschen-Express
Sie stelle häufig fest, sagte Jenny Erpenbeck, dass Bücher und Filme über die DDR erst mit der Staatsgründung oder gar noch später einsetzten. Doch sie findet: „Man muss weiter zurückgehen.“ So wie sie es in „Kairos“ getan habe. Darin erzählt sie von einem Alltag, der mehr und mehr in Vergessenheit gerät. Dass im Pariser Publikum – das wohl zur Hälfte des Deutschen kundig war – der Begriff „Laufmaschen-Express“ unbekannt war, mochte sie nicht glauben. „Aber man kennt doch auch die Absatz-Bar!“ Bitte, was? „Armer Westen!“ rief sie aus. Der Kapitalismus habe eben kein Interesse daran (gehabt), Dinge zu reparieren. Aber in der DDR sei es nicht möglich gewesen, sich bei einer Laufmasche in der Feinstrumpfhose oder bei einem abgebrochenen Schuhabsatz sofort etwas Neues zu kaufen.
„Kairos“ liegt in rund 30 Sprachen vor – und so ein „Laufmaschen-Express“ ist ziemlich sicher für jeden Übersetzer und jede Übersetzerin eine harte Nuss. Rose Labourie, die für Gallimard den Roman ins Französische übertragen hat, gab einige Einblicke, wie umfangreich die Recherche war. Jenny Erpenbeck selbst bekannte, sie müsse sich mittlerweile schon zwingen, beim Schreiben nicht immerzu an die Übersetzung zu denken. Allein schon die Titel von ihren vorangegangenen Büchern „Heimsuchung“ und „Aller Tage Abend“ seien Herausforderungen gewesen. Manchmal waren sie auch nicht zu meistern: So heißt „Heimsuchung“ im Französischen „Le Bois de Klara“.
„Ein toller Denker“
Jenny Erpenbeck nutzte den Abend im Goethe-Institut auch, um ein paar Fehleinschätzungen zu benennen. So habe es in einigen westdeutschen Kritiken – „aber wir sind ja jetzt alle der Westen“ – geheißen, „ich würde Moskau glorifizieren“, was nun ganz und gar nicht der Fall sei. Auch meinte ein Rezensent, in dem Hans des Romans den Dramatiker und Regisseur Heiner Müller zu erkennen. Das sei erst rechts völlig abwegig.
Dieser Hinweis gab ihr die Gelegenheit, ein Loblied auf Heiner Müller zu singen: „Ein toller Denker. Und wie er mit der Sprache umgegangen ist, war einfach grandios.“ Beim „Tristan“ in Bayreuth habe sie ihn als seine Regieassistentin näher kennengelernt: „Er war immer umgeben von jungen Menschen, die an seinen Lippen hingen. Man hat gar nicht gemerkt, dass da so ein Genie sitzt, denn er war sehr bescheiden.“ Als Leserin habe sie ihn schon immer geschätzt. Das tue sie bis heute. Wenn ihr „geistige Klarheit“ fehle, schlage sie eines seiner Bücher auf: „Das hilft sofort.“
Martin Oehlen
Auf diesem Blog
haben wir Jenny Erpenbecks Würdigung von Christine Lavant HIER vorgestellt.
Jenny Erpenbeck: „Kairos“, Penguin Verlag, 384 Seiten, 24 Euro. E-Book: 12,99 Euro.


Armer Westen. Oder vielleicht eher: noch stärker verschüttete Vergangenheit. Mit Sicherheit hat man auch in Frankreich oder Westdeutschland Strümpfe bei Laufmaschen reparieren, bzw. Absätze machen lassen. Aber mit Sicherheit war das dann die Eltern bzw. Großelterngeneration des Publikums. Nur wird das nie so unter einem einheitlichen Begriff wie in der DDR zu finden gewesen sein. Aber egal, mich freut, dass Jenny Erpenbeck so erfolgreich ist. Weil die DDR als Thema weitergegeben wird, aber ohne den üblichen nervigen/ bittren Beigeschmack.
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