Die Angst des Erzählers, verrückt zu werden: Leon Englers attraktiver Familienroman „Botanik des Wahnsinns“

Das Otto-Wagner-Areal in Wien, ein Juwel des Jugendstils, wurde lange Zeit als Heil- und Pflegeanstalt Steinhof genutzt. Leon Engler tritt hier zur Premierenlesung aus seinem Roman an. Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Es sehe nicht gut für ihn aus, bemerkt der Erzähler recht früh. Seine Großmutter sei ja nicht die nicht die einzige in der Familie gewesen, die in der Psychiatrie gelandet sei. Auch der Großvater habe dort sein halbes Leben verbracht. Dann die Depression der Mutter, gepaart mit Alkoholismus, und die Depression des Vaters. „Mein Stammbaum ist befallen von so ziemlich jeder Plage, die in den Bibeln der Psychiatrie zu finden ist.“ Das gibt ihm zu denken. Die Mythologie kenne den Ahnenfluch, die Medizin die Prädisposition. Bald schon habe er sich die Frage gestellt: „Wann bin ich dran?“ Die Angst, „verrückt“ zu werden, hat sogar einen Namen: Agateophobie.    

„Schau einfach, wo es brennt“

Tatsächlich landet auch der Ich-Erzähler in Leon Englers „Botanik des Wahnsinns“ eines Tages in einer psychiatrischen Klinik. Allerdings nicht als Patient, sondern als Psychologe. Auf diese Weise bekommen wir einen Schlüssellocheinblick ins Anstaltsleben.

Ja, es gebe eine Standardprozedur für alle Patienten, sagt die Vorgesetzte. „Aber eigentlich müsste man für jeden Patienten eine eigene Therapie entwickeln.“ Grobe Kategorien helfen da offensichtlich nicht weiter. Auch die Antwort auf die Frage des neuen Kollegen, was genau er tun solle, ist nicht ermutigend: „Schau einfach, wo es brennt.“ Die medizinische Betreuung, so schließen wir aus alledem, könnte deutlich besser sein. Aber wo denn nicht?

„Das Leben wurde nicht besprochen“

Der Erzähler nimmt sich vor, im Umgang mit den Patienten nicht abzustumpfen. Doch lange hält er diesen Job nicht aus. Nach einem Jahr kündigt er. Die Leitende Psychologin schenkt ihm zum Abschied eine Kaffeetasse mit der Aufschrift: „Lieber verrückt als einer von euch.“

Die „Botanik des Wahnsinns“ ist auch ein erhellender Psychiatrieroman, vor allem aber eine packende Familiengeschichte. Möglicherweise sogar eine mit autofiktionalen Elementen. Der Ich-Erzähler nimmt kein Blatt vor den Mund. Damit schlägt er einen ganz anderen Weg ein als seine Eltern. „Schon immer herrschte eine seltsame Sprachlosigkeit in unsrer Familie vor“, schreibt er. „Das Leben wurde gelebt, nicht besprochen.“ Damit hat es nun ein Ende. Was der Erzähler zu Papier bringt, kann auch als Familienanamnese gelesen werden.

„Hilf dir selbst“

Zwar findet er im eingelagerten Nachlass der Mutter nur unbedeutendes Altpapier. Denn irrtümlich sind die falschen Kartons entsorgt worden: „Ein Jahrhundert an Erinnerungen wurde im Heizkraftwerk Nord verbrannt.“ Darunter Briefe und Fotoalben. Doch das Gedächtnis gibt noch einiges preis. Auch das schöne Motto der Mutter: „Hilf dir selbst, dann muss dir Gott nicht helfen.“

Leon Engler verleiht dieser Erzählung, die zwischen den Zeiten hin- und herspringt, einen angenehm leichten Ton. Sein Debütroman ist keine quälende Schmerzensgeschichte und auch keine überdrehte Anstaltswitze-Klopferei. Der Autor – der als Psychologe, Dozent und Dramatiker hervorgetreten ist – setzt auf ein wohl dosiertes Quantum Lakonie: „Mein Vater und die Psychoanalyse sind in Wien geboren“, sagt er und fährt fort: „Ich kenne beide nicht besonders gut.“  

„Heute Dampf, morgen Eis“

Ja, mit einer verschmitzten Ernsthaftigkeit geht er ans Werk. Zudem überzeugt seine „Botanik des Wahnsinns“ durch ihre Bildkraft: „Die Mutter meiner Mutter war wie Wasser. Ständig in Bewegung, ständig den Zustand wechselnd. Heute Dampf, morgen Eis.“ Und wo sich Leon Engler eine Chance zur Pointe bietet, nutzt er sie: „Wir gehen in die einzige Bar, die diese Stadt zu bieten hat. Erst sind wir die Jüngsten, dann die Letzten.“ Dass er es mit dem „kreativen Schreiben“ auch mal übertreibt, wenn er etwa die Farbe eines Zauns als „amtsschreibengelb“ bezeichnet, kann bei so viel Freude an der Originalität schon mal vorkommen.   

Eine Sonderrolle in diesem Buch spielt ein Nachbar. Zuweilen notiert unser Erzähler, was der Mann zum Besten gibt. Einiges davon nimmt er sogar durch die Wohnungswand wahr. Da hört er genau hin. Als hätte der Nachbar das Zeug zum Guru. Als der Mann stirbt, kündigt der Erzähler an, er wolle ihm zu Ehren in  Wien einen Baum aus Orangen und Zitronenkernen pflanzen. Sobald die Äste sein Gewicht tragen könnten, werde er sich daran aufhängen. Allerdings weiß er selbst: „Südfrüchte wachsen hier nicht.“ Die Aussichten sind also günstig.

Martin Oehlen

Lesungen

mit Leon Engler am 5. 9. 2025 in Wien im Jugendstiltheater am Steinhof (Buchpremiere), 10. 9. im Literaturhaus in Frankfurt am Main und am 11.9. in Köln in „Der andere Buchladen“ (Weyertal 32). Weitere Lesungen folgen im Oktober und November.

Leon Engler: „Botanik des Wahnsinns“, DuMont, 208 Seiten, 23 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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