
Robert Walser (1878-1956) galt eine Weile als Schriftsteller, den vor allem seine nachgeborenen Kolleginnen und Kollegen verehrten. Doch mittlerweile wird der Schweizer auch jenseits dieses exklusiven Kreises „als eine der ungewöhnlichsten und originellsten Stimmen des frühen 20. Jahrhunderts“ geschätzt. So sieht es Susan Bernofsky, die ihm eine packende Biografie widmet: „‘Hellseher im Kleinen‘ – Das Leben Robert Walsers“.
Schon ihre Einleitung ist so dicht und farbig, dass man befürchtet, auf den folgenden 420 Seiten könne nicht mehr viel kommen. Doch weit gefehlt. Denn die Amerikanerin geht minutiös zu Werke. Ihre Nahaufnahme wirkt ähnlich fein ziseliert wie die legendären Mikrogramme des Autors.
„Literarische Opulenz“
Robert Walsers Werk wird dominiert von den Romanen „Geschwister Tanner“, „Der Gehülfe“ und „Jakob von Gunten“. Christian Morgenstern setzte sie als Lektor beim Berliner Verlag Bruno Cassirer durch. Eine bedeutende Tat. Doch wäre das Werk in einem größeren Haus erschienen, lesen wir, hätte es vermutlich sofort für mehr Furore gesorgt. Ergänzt wird diese Posa von einem ordentlichen Stoß an Zeitungs-Feuilletons. Und dann sind da noch die Mikrogramme, jene in winziger Schrift geklöppelten Geschichten aus der Spätzeit.
Susan Bernofsky ist bestrebt, „ein Porträt des Künstlers als professionellen Literaten zu zeichnen, als eines meisterhaften Handwerkers, der auf seinem Weg zahlreiche Hindernisse zu überwinden hatte, aber unbeirrt an seiner Kunst festhielt.“ Sie lobt unter anderem die „literarische Opulenz“ und den „psychologischen Scharfsinn“ des Autors, seine Ironie und seinen scharfen Blick dafür, „welche Verwüstungen Beschleunigung und Mechanisierung im menschlichen Geist“ anrichten. Thematisch habe er „das Schlichte und Unscheinbare“ gefeiert. Der Schriftsteller W. G. Sebald, einer seiner Fürsprecher, bezeichnete ihn daher als „Hellseher im Kleinen“.
„Äußerst herrlicher Einfall“
Und die Lebensgeschichte? Von ihr sei am ehesten bekannt, schreibt sie, „dass er in jungen Jahren eine Banklehre absolvierte und sich zum Diener ausbilden ließ, später aber Jahrzehnte in einer psychiatrischen Klinik verbrachte, bevor er auf einem einsamen Spaziergang im Schnee starb.“ Er war ein schneller Wanderer und zuweilen zu derben „Eskapaden“ bereit. Sein „äußerst herrlicher Einfall“, zum Schrecken seiner Künstlerfreunde eine Dienerschule zu besuchen, sei „ein ganz ausgezeichneter Schabernack“ gewesen.
Der Schriftsteller sei ein „unbeugsamer Gegner jeder Form von Einzäunung oder Behinderung seines Lebens“ gewesen, schreibt Susan Bernofsky. Am wohlsten habe er sich beim Gehen auf offener Landstraße gefühlt. Seine Unruhe drückte sich nicht zuletzt in vielen Wohnungswechseln aus: In einem extremen Jahr zog er dreizehnmal um.
„Den größeren Teil einer Stunde“
Die Biografie erzählt die Vita anschaulich und stilistisch attraktiv. Das ist gewiss auch der Übersetzung von Michael Adrian zu danken. Die erlaubt sich sogar zuweilen einen literarisch ambitionierten Ton, wenn etwa davon die Rede ist, dass sich ein Zug „den größeren Teil einer Stunde“ am Zürichsee entlangschlängele.
Susan Bernofsky, die Kreatives Schreiben an der Columbia University of Arts unterrichtet, hat als Übersetzerin Thomas Mann, Franz Kafka und eben Robert Walser ins Englische übertragen. Sie blickt in die Winkel dieses Lebens. Gleichwohl bleibt vieles unentdeckt. So sind die Quellen für die Berliner Jahre, in denen er seine literarische Karriere begründete, zum Teil im Weltkrieg zerstört worden. Auch manche intime Erörterung – ob Robert Walser womöglich ein Verhältnis mit dem jungen Walther Rathenau hatte oder weshalb die Verbindung zu Frieda Mermet nicht in einer Heirat mündete – bleibt spekulativ.
28 Jahre in der Anstalt
Auf dem Höhepunkt seiner kreativen Schaffenskraft, heißt es, begab sich Robert Walser im Jahre 1929 in die Heilanstalt Waldau in Bern. Bei seiner Aufnahme gab er an, Stimmen zu hören und unter Depressionen zu leiden. Auch habe er zuvor – so die Worte seiner Schwester Lisa – seinen „beiden Zimmervermieterinnen einen Heiratsantrag gemacht und gleich nachher sie gebeten, sie sollen ihn erstechen.“ Die Frauen selbst gaben an, er habe sie mit einem Messer bedroht.
In Waldau begann er die „Lehre in der Kunst des Nicht-Schreibens“. Vier Jahre später wurde er gegen seinen Willen in die Heilanstalt nach Herisau verlegt. Spaziergänge unternahm er weiterhin, viele auch mit seinem Vormund Carl Seelig, der die dabei geführten Gespräche veröffentlicht hat. Ansonsten habe Robert Walser, schreibt Susan Bernofsky, Papiertüten geklebt und nach den Mahlzeiten die Tische des Speisesaals gewischt. Bis zu seinem Tod im Schnee vor bald 70 Jahren.
Martin Oehlen
Susan Bernofsky: „‘Hellseher im Kleinen‘ – Das Leben Robert Walsers“, dt. von Michael Adrian, Suhrkamp, 536 Seiten, 38 Euro. E-Book: 32,99 Euro.
