Fünf Prozent mit Künstlicher Intelligenz: Rie Qudans preisgekrönter Zukunftsroman „Tokyo Sympathy Tower“

Architektur in Tokio Foto: Bücheratlas / M. Oe.

Rie Qudan, 1990 in Japan geboren, hat bislang drei Romane veröffentlicht. Doch wenn nicht alles täuscht, dann erzielte sie die bislang größte Aufmerksamkeit mit einer Dankesrede. Diese hielt sie im vergangenen Jahr, als ihr Zukunftsroman „Tokyo Sympathy Tower“ mit dem renommierten Akutagawa-Preis ausgezeichnet wurde. Die Autorin bekannte bei dieser Gelegenheit, dass sie einige Textpassagen des Romans mithilfe von künstlicher Intelligenz erstellt habe. Oha! Da zuckt man erst einmal zusammen.

„Neigung zum Mansplaining“

Aber gar so eklatant ist der Vorgang dann doch nicht. Zum einen hat Rie Qudan berechnet, dass es sich dabei lediglich um fünf Prozent des Manuskripts handele. Zum anderen betreffe es nur Passagen, in denen die Heldin Sara Makina mit genau einer solchen KI kommuniziere.

Tatsächlich ist der Umgang mit ChatGPT eines der Themen des Romans, der in der nahen Zukunft angesiedelt ist und der nun in der Übersetzung von Ursula Gräfe auf Deutsch vorliegt. So kritisiert die Architektin Sara Makina nicht nur, dass die Künstliche Intelligenz sich daran gewöhnt habe, „ungestraft die Texte anderer zu stehlen“. Auch beklagt sie die „Neigung zum Mansplaining“: „also Dinge zu erklären, nach denen ich nicht gefragt hatte.“

Wohlfühlgefängnis für Kriminelle

Doch nicht die KI ist der Clou des Romans. Vielmehr ist es der titelgebende „Tokyo Sympathy Tower“. Aus dem architektonischen Wettbewerb ist Sara Makina mit ihrem Büro siegreich hervorgegangen. Doch je länger sie über das Prestige-Projekt im Bezirk Shinjuku nachdenkt, desto zahlreicher werden die Zweifel. Das ist zumal der Fall, nachdem sie den Plan erfolgreich realisiert hat. Sie sagt: „Wenn ich jemals wieder als Architektin arbeiten sollte, dann muss es ein Projekt sein, das ich zu hundert Prozent selbst finanziere und das zu hundert Prozent meinem Willen entspringt.“

Der Turm korrespondiert mit dem benachbarten Olympiastadion, das ursprünglich und nach einem extravaganteren Entwurf von Zaha Hadid gebaut werden sollte. Nicht allein die Anmutung des Wolkenkratzers sorgt für ein persönliches und öffentliches Pro und Contra. Auch die spektakuläre Nutzung ist alles andere als vertraut: Das luxuriöse Hochhaus dient als Wohlfühlgefängnis für Kriminelle.

Der nervige Zensor im Kopf

Die Gesellschaft, die wir hier ein wenig kennenlernen, ist halt auf Empathie und Inklusion geeicht. Da lautet die Frage: Sind nicht die meisten Täter, die verurteilt worden sind, selbst einmal Opfer gewesen? Der Glücksforscher Masaki Seto empfiehlt vor diesem Hintergrund, den Begriff „Kriminelle“ durch „Homo miserabilis“ zu ersetzen – „Menschen, die unser Mitgefühl verdienen.“ Den neuen Umgang wissen die Gefangenen zu schätzen. Sie fühlen sich in dem Edelgefängnis derart wohl, dass sie es gar nicht mehr verlassen. Und wer will, darf tatsächlich bleiben.

In einer solcherart sensibilisierten Gesellschaft ist die „political correctness“ ein hohes Gut. Sara Makina, die den Umgang mit einem 15 Jahre jüngeren Schönling schätzt, verspürt ein ums andere Mal einen nervigen kleinen „Zensor“ im Kopf, der sich in ihre Wortwahl einmischt. Sie sagt nicht immer das, was sie denkt. Denn Worte, weiß Sara Makina, „prägen die Wirklichkeit“.

Utopie oder Dystopie?

Überhaupt spielt die Sprache eine tragende Rolle in diesem angenehm schillernden Text. Zumal die Lehnwörter, die aus dem Englischen ins Japanische integriert werden, finden Beachtung. Denn Sara Makina geht es auch um die japanische Identität, ohne dass sie sich für eine Abschottung ausspricht, die das Land in seiner Historie lange genug gepflegt hatte. Ihr gefällt „Tokyo-to Dojo-to“, der japanische Name für den „Turm des Mitgefühls der Stadt Tokio“, viel besser als „Tokyo Sympathy Tower“. Was würde sie wohl zum Titel dieses Romans sagen?

„Tokyo Sympathy Tower“ punktet nicht mit einem ausgefuchsten Plot. Der Roman bietet kein Actionfeuerwerk, sondern Reflexion. Seinen kontemplativen Reiz bezieht er aus seiner originellen Verbindung von Architektur und Philosophie, von Sprache und Identität. Rie Qudan – deren Name im Angelsächsischen Rie Kudan ist – wirft einen Blick in die Zukunft, bei dem noch nicht feststeht, ob es sich um eine Utopie oder eine Dystopie handelt.

Martin Oehlen

Rie Qudan: „Tokyo Sympathy Tower“, dt. von Ursula Gräfe, Hoffmann und Campe, 158 Seiten, 23 Euro. E-Book: 17,99 Euro.

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