Zwei Attraktionen zum 50. Todestag von Rolf Dieter Brinkmann: Die erste umfassende Biografie und ein Fundstück aus dem Nachlass

Vierter Stock, Engelbertstraße 65, Köln – hier wohnte Rolf Dieter Brinkmann. Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Als Rolf Dieter Brinkmann im Juni 1975 der Petrarca Preis zugesprochen wird, ist der Schriftsteller bereits seit zwei Monaten tot. Er war am 23. April in London beim Überqueren des Westbourne Grove von einem Auto angefahren worden. So ist die Verleihungsfeier auf dem Mont Ventoux eine Gedenkstunde für den Verstorbenen. Peter Handke ist dabei. Von seiner Rede ist nur wenig überliefert, weil der Wind der Provence die Worte davonträgt. Doch immerhin eine Bemerkung gilt als verbürgt: „Ein Ich, das querliegt zur Welt.“ Kürzer kann man den Menschen Brinkmann kaum in Worte fassen.

„Ich gehe in ein anderes Blau“

Wer freilich daran interessiert, noch ein bisschen mehr über den bedeutenden Lyriker und schwierigen Menschen zu erfahren, dem ist die Biografie von Michel Töteberg und Alexandra Vasa mit Nachdruck zu empfehlen: „Ich gehe in ein anderes Blau“. Es handelt sich um die erste umfassende Rolf-Dieter-Brinkmann-Biografie. Sie wird bestimmt von hellwacher Neugier und kritischer Beobachtung.

Töteberg und Vasa folgen dem Schriftsteller gleichsam auf Schritt und Tritt, ohne sich dabei in den Details zu verheddern. Es ist keine Faktenhuberei nach dem Motto: Seht her, diesen Bierdeckel haben wir auch noch gefunden! Vielmehr besticht die Biografie dadurch, dass sie eine so zügige wie tiefschürfende Erzählung bietet.  

„Nicht jede Sitzung endete mit einem Eklat“

Rolf Dieter Brinkmann wird am 16. April 1940 in Vechta geboren und wächst im Zweiten Weltkrieg auf, wie er selbst schreibt, „unter dem latenten dumpfen Todesdruck und einer namenlosen Bedrohung“. Die Schule ist ihm ein Schreckensort, das Lehrerkollegium ein Horrorkabinett. Eine Ausnahme bildet allein der Deutschlehrer. Am Gymnasium schließt sich Brinkmann dem Debattierklub „Rhetorika“ an und provoziert, wie die Biografen sagen, indem er sich als Existenzialist geriert. Immerhin: „Nicht jede Sitzung endete mit einem Eklat.“

1958 wendet er sich an Peter Suhrkamp, den Verleger des Suhrkamp Verlags in Frankfurt am Main. Der 18-Jährige gibt vor, zu seinen unverlangt eingesandten Texten nichts weiter mitteilen zu wollen, um dann „seitenlange Ausführungen“ anzufügen. Die Biografen vermerken: „Diese Neigung zu mäandernden selbstreflexiven Kommentierungen wird sich auch später nicht verlieren.“

„Ich würde Sie gerne kennenlernen“

Der Suhrkamp Verlag ist allerdings von der Originalität der vorgelegten Texte nicht überzeugt. Vergleichsweise freundlich formuliert Lektor Walter Boehlich seine Absage. Beim Rowohlt Verlag hingegen rümpft Lektor Peter Rühmkorf ganz entschieden die Nase: Er findet „alles so geborgt wie lahmflüglig.“ Dann aber kommt Kiepenheuer & Witsch ins Spiel. Lektor Dieter Wellershoff erkennt 1962 das Talent. Er schreibt an Brinkmann: „Ich würde Sie gerne einmal kennenlernen.“

Damit beginnt die literarische Karriere des jungen Autors. Seinem Förderer Dieter Wellershoff wie auch dem Verlag wird er in den folgenden acht Jahren, bis zur Trennung, sehr vieles zumuten. So sehr seine Prosa und Lyrik überzeugen, so sehr missfallen seine Grobheiten. Verleger Reinhold Neven Du Mont hält in seinen Memoiren fest: „An guten Tagen verbreitete er Hohn und Spott, an schlechten Gift und Galle.“

In Köln ist er nie heimisch geworden

Rolf Dieter Brinkmann lebt nun in Köln. Mit seiner Partnerin Maleen und dem gemeinsamen Sohn Robert wohnt er in der Engelbertstraße 65, nur ein paar Schritte entfernt vom Rudolfplatz. In dem Lyrikband „Westwärts 1 & 2“ heißt es: „Neonlichter, roter, blauer Regen, zerlaufene Reklame / in den Pfützen vor dem schäbigen Miethaus, in dem ich / vier Stockwerke hoch wohne“.

Heimisch wird er dort nicht, wie die Biografen feststellen. Kurz vor seinem Tod stellt er sich auf der Bühne des „Cambridge Poetry Festival 75“ vor: „I am coming from Cologne and Cologne is a dark industrial city with very little poetry in it every day.“

Erinnerungstafel an der Hausfront: „In diesem Haus/ Schrieb, liebte und hasste/ Rolf Dieter Brinkmann/: Aber das Leben erschlaffte“. Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Pop-Pionier und Kultfigur

Der Großmutter Therese Brinkmann schickt der junge Dichter seine Texte nach Vechta. Die bedankt sich für die Zusendung. Allerdings sagt sie auch, was sie vom Inhalt hält: „Sei mir bitte nicht böse, dass ich kritisiere, so z.B. die Beschreibung des Unterkörpers, das tut nicht nötig, das kennt ein jeder.“ Er möge auch daran denken, dass sein Sohn Robert eines Tages diese Bücher lesen werde. Und dann noch der Ausblick: „Sollte ich mal ein schönes Buch von Dir bekommen, was jeder lesen kann, werde ich es Dir reichlich lohnen.“

Damit hat Therese Brinkmann gewiss nicht die Pop-Literatur gemeint, mit der Rolf Dieter Brinkmann in Deutschland für Furore sorgt. Zum Gedichtband „Was fraglich ist wofür“ (1967) hatte der Dichter selbst rückblickend angemerkt, dass es „in Deutschland der erste Gedichtband mit Pop-Tendenz“ gewesen sei. Diese Stilform bestätigt der Roman „Keiner weiß mehr“ (1968). Marcel Reich-Ranicki lobt in der „Zeit“ die Kühnheit und Radikalität, Karl Heinz Bohrer in der „FAZ“ den „ersten genuin entwickelten deutschen ‚Pop-Roman‘“.

„Frank Xerox’ wüster Traum“

Rolf Dieter Brinkmann ist nun eine Größe im bundesdeutschen Literaturbetrieb. Und mit „Acid“ (1969) avanciert er „zur Kultfigur der jüngeren Kölner Szene“. Das Underground-Lesebuch, das von der Beatnik-Szene der USA beeinflusst ist, veröffentlicht er gemeinsam mit seinem Freund Ralf-Rainer Rygulla im März-Verlag.

Mit dem Band „Frank Xerox’ wüster Traum und andere Kollaborationen“ wollte das Duo den „Acid“-Erfolg bestätigen. Dazu kam es damals allerdings nicht. Doch jetzt erscheint dieses literarische Experiment im Axel-Dielmann-Verlag zum doppelten Jahrestag – zum 85. Geburtstag und zum 50. Todestag von Rolf Dieter Brinkmann. Dabei handelt es sich um eine Fundsache aus dem Literaturarchiv Marbach.

„Was wir durch die Scheiben sahen“

Die bunt ins Kraut schießende Collage, Fotografien und Aktzeichnungen inklusive, sollte die vertraute Autorschaft auflösen, indem offenblieb, wer welchen Beitrag verfasst hatte. Ralf-Rainer Rygulla schreibt im Nachwort: „Wir assoziierten frei aus der Situation heraus, nach dem, was wir durch die Scheiben sahen, nach Stichwörtern, die wir uns zuspielten. Da war nie ein Zwang, uns oder Lesern eine bedeutende Mitteilung zu machen. Das lustvolle Erstellen eines Textes stand im Vordergrund.“

Auch verweist Rygalla auf „RDBs aus heutiger Sicht sexistische Fantasien“. Diese seien getriggert worden „von der Spannung zwischen dem Frauenbild der Nachkriegszeit einerseits und der stattfindenden sogenannten Sexuellen Revolution – einem kulturellen Purzelbaum mit Anti-Baby-Pille, Minirock und Unisex – andererseits.“

„Ein unversöhnlicher Freund“

Rygalla hatte den vier Jahre älteren Brinkmann 1960 in Essen kennenglernt, wo sie gemeinsam einen Buchhandelslehre absolvierten. Brinkmann sei „ohne den geringsten Selbstzweifel ein Dichter“ gewesen, schreibt Rygalla, „und diese Identität bestimmte seinen Alltag, forderte seine Freunde, Bekannten, und durchdrang jeden Aspekt, jeden Umstand seines Lebens.“ Es sei von Beginn an eine „schonungslose Freundschaft“ gewesen.

Die Galligkeit, das legt die Biografie nahe, ist eine Konstante in Brinkmann Leben. Nicolas Born wird zitiert mit den Worten, Brinkmann sei ein „unversöhnlicher Freund“ gewesen. Niemand wird verschont. Nicht in Vechta und nicht in Köln, nicht im texanischen Austin, wo er als „Writer in Residence“ auftritt, und auch nicht in Rom.

Telefonkosten sorgen für Ärger

Während seines Stipendiums in der Villa Massimo polemisiert Brinkmann gegen den Italienreisenden Goethe: „Jeden kleinen Katzenschiss bewundert der und bringt sich damit ins Gerede.“ Die Biografen meinen, dass sich diese Polemik auch auf Brinkmann anwenden ließe – „nur dass sich dieser über jeden Katzenschiss beschwert.“ Die Monate in Rom sind reich an Konflikten. Sogar Brinkmanns Telefonkosten sorgen für Ärger. Sie sind derart enorm, dass ihm die Direktorin der Villa die Verbindung kappt. Eine durchaus übliche Verlängerung des Aufenthalts wird verweigert.

Dabei könnte der Autor jede Unterstützung gebrauchen. Finanzprobleme belasten den Alltag. Zahlungsbefehle kommen in dichter Folge. Sogar Beugehaft droht. Brinkmann reagiert – wie zu lesen ist – mit einer verzerrten Wahrnehmung der Wirklichkeit. Statt zu überlegen, wie die finanzielle Schieflage überwunden werden könnte, habe er ein Anspruchsdenken entwickelt: „Wieso ist die Welt nicht für mich da.“

„Die Poesie hat nichts mit Gedichten zu tun“

Die Vita steht im Vordergrund bei Michael Töteberg und Alexandra Vasa. Aber selbstredend geht das nicht ohne den Blick auf das kraftvolle Werk. Beide Welten finden immer wieder zusammen. So ist dem leidenschaftlichen Kinogänger und Super-8-Amateurfilmer die Filmkunst eine Inspirationsquelle für seine Dichtung. Die Biografie verweist auf Siegfried Kracauers Theorie vom „Medium der Oberfläche“: Der Film diene nicht zuletzt dazu, „vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten“. Dieses Ziel verfolgt Brinkmann in seiner Dichtung. Er selbst sagt in seinem langen „Sonntagsgedicht“: „Die Poesie hat nichts mit Gedichten zu tun. Die Poesie ist manchmal ein wüster, alltäglicher Albtraum“.

Nach einer Schreibblockade gelingt ihm ein Comeback. Der Gedichtband „Westwärts 1 & 2“, der bei Rowohlt erscheint, ist die „lyrische Fassung einer Autobiografie“. Die ersten Exemplare liegen vor, als er 1975 nach England aufbricht. In diesem „Opus magnum“, das nun in einer erweiterten Neuausgabe angeboten wird, finden sich die Verse, denen der Biografie-Titel entlehnt ist: „Wer hat gesagt, dass sowas Leben / ist? Ich gehe in ein / anderes Blau.“

Martin Oehlen

Auf diesem Blog

haben wir in unserer Reihe über „Literarische Orte im Rheinland“ auch die Engelbertstraße 65 in Köln vorgestellt – und zwar HIER.  

Außerdem haben wir den Band mit Fotografien vorgestellt, die Ulrike Pfeiffer in Rolf Dieter Brinkmanns Wohnung aufgenommen hat – und das gibt es HIER.

Eine Veranstaltung

mit den Biografen Michael Töteberg und Alexandra Vasa bietet das Literaturhaus Köln am 9. April um 19 Uhr. Außerdem zu Gast an diesem „Abend für Rolf Dieter Brinkmann“: Roberto Di Bella und Linda Pfeiffer. Moderation: Gisa Funck.

Michael Töteberg und Alexandra Vasa: „Ich gehe in ein anderes Blau – Rolf Dieter Brinkmann – eine Biografie“, Rowohlt, 398 Seiten, 35 Euro. E-Book: 30,99 Euro.

Rolf Dieter Brinkmann und Ralf-Rainer Rygulla: „Frank Xerox’ wüster Traum und andere Kollaborationen“, Axel Dielmann Verlag, 112 Seiten, 26 Euro.

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