
Wie kommt ein menschlicher Knochen in eine Installation der verstorbenen Künstlerin Vanessa Chapman? Handelt es sich dabei womöglich um die sterblichen Überreste ihres verschwundenen Ehemannes Julian? Skandal, schreien die Ausstellungsmacher des Londoner Museums Tate Modern und bitten den Leihgeber des umstrittenen Kunstwerks, die englische Fairburn-Stiftung, um Aufklärung. Betraut wird damit deren Kurator James Becker, ein glühender Verehrer von Vanessa Chapman. Der schon bald erkennen muss, dass die Suche nach der Wahrheit lebensgefährlich sein kann.
Ein Fall und viele Facetten
„Die blaue Stunde“ ist der vierte Roman von Paula Hawkins. Die britische Autorin, 1972 im heutigen Simbabwe geboren, wurde 2015 mit „Girl on the Train“ bekannt, einem mitreißenden Krimi, der sich bis heute weltweit mehr als 23 Millionen Mal verkaufte. An ihren damaligen Erfolg konnte sie mit ihren nachfolgenden Büchern allerdings nicht anknüpfen.
Ihr jüngster Roman, 2024 unter dem Titel „The Blue Hour“ in Großbritannien erschienen, ist ein facettenreicher Krimi, der von zahlreichen Perspektivwechseln, Rückblenden und den Tagebucheintragungen und Briefen der verstorbenen Vanessa Chapman lebt. Paula Hawkins macht aus all dem eine leise, nahezu unprätentiös daherkommende Geschichte, die erst nach und nach die Untiefen einer ungesunden, von Besitzansprüchen geprägten Freundschaft offenbart.
Die Reise nach Eris Island
James Becker reist nach Eris Island, eine Gezeiteninsel, auf der Vanessa Chapman ihren letzten Wohnsitz hatte. Dort steht nach wie vor das Atelier der Künstlerin. Und dort ist vor vielen Jahren ihr Ehemann Julian verschwunden, ein promiskuitiver Hallodri mit einem entspannten Verhältnis zum Geld seiner Ehefrau. Heute lebt Vanessa Chapmans langjährige Freundin Grace Haswel auf Eris Island und wacht über das Erbe der Verstorbenen. James Becker erhofft sich von ihr Aufklärung über die Herkunft des Knochens und den Verbleib einiger verschwundener Kunstwerke.
Geschickt nährt Paula Hawkins bei ihren Leserinnen und Lesern Zweifel an der Lauterkeit des jungen Mannes. Hütet James Becker ein dunkles Geheimnis? Und war die Freundschaft zwischen den beiden Frauen wirklich so unbeschwert, wie Grace Haswel ihren Besucher glauben machen will? Kapitel um Kapitel steigert die Autorin die Spannung bis zum grauslichen Höhepunkt. Okay, an „Girl on the Train“ kommt auch dieses Buch nicht heran. Ein lesenswerter, gut gemachter Krimi ist „Die blaue Stunde“ allemal.
Petra Pluwatsch
Paula Hawkins: „Die blaue Stunde“, dt. von Birgit Schmitz, dtv, 368 Seiten, 22 Euro. E-Book: 16,99 Euro.
