
Unter den Vögeln ist der Sankofa ein sehr bemerkenswertes Exemplar: Er blickt zurück in die Vergangenheit, um für Gegenwart und Zukunft gerüstet zu sein. Bei den Aschanti in Ghana wird er daher mit nach hinten gedrehtem Kopf dargestellt. Mittlerweile hat der mythische Sankofa eine beachtliche Karriere hingelegt. Sein Name schmückt einen Song von Cassandra Wilson, einen Film von Haile Gerima – und nun auch den neuen, posthum veröffentlichten Roman von Dogan Akhanli.
Der Sketchautor im zweiten Stock links
Der Schriftsteller entwirft ein breites Panorama. Geographisch reicht „Sankofa“ von Anatolien bis ins Rheinland, zeitlich von der türkischen Militärdiktatur der 1980er Jahre bis zum Beginn der Pandemie im Jahre 2020. Historische Ereignisse scheinen da und dort auf – die Ermordung des Journalisten Hrant Dink ebenso wie der NSU-Prozess. Und der gelegentlich auftauchende „Sketchautor im zweiten Stock links“ in Köln, der „klein und schweigsam“ ist und „sehr oft verhaftet wurde“, ähnelt Dogan Akhanli durchaus.
So spiegeln sich in diesem Werk zahlreiche Erfahrungen, die der Schriftsteller selbst gemacht hat. Dogan Akhanli wurde 1957 im Nordosten der Türkei geboren und ist 2021 in Berlin gestorben; lange wohnte er in Köln, wo sich auch sein Grab befindet. Er war vertraut mit türkischer Staatswillkür. Erstmals wurde er im Alter von 20 Jahren inhaftiert. Der Grund: er hatte eine linke Zeitschrift gekauft. Nach dem Militärputsch im Jahr 1980 ging er in den Untergrund, wurde gefasst und saß zwei Jahre im Militärgefängnis von Istanbul ein. Nach der Flucht erhielt er 1991 in Deutschland politisches Asyl. Die Türkei reagierte darauf mit der Ausbürgerung.
„Zahlreiche ungenutzte Potenziale“
Im Jahre 2010 wurde er bei einem Besuch in der alten Heimat abermals verhaftet. Man klagte ihn an, vor 21 Jahren an einem Raubüberfall mit Totschlag beteiligt gewesen zu sein. Doch im Prozess beteuerte ein Sohn des erschossenen Ladenbesitzers: „Ich kann mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass dieser Mann nicht unter den drei Tätern war.“ Der fällige Freispruch wurde später aufgehoben. Auf dieser Basis kam es 2017 zu einer weiteren Verhaftung im spanischen Granada. Diese hatte die Türkei bei Interpol durchgesetzt. Aufgrund intensiver Proteste, nicht zuletzt von Bundeskanzlerin Angela Merkel, konnte der Autor nach zwei Monaten ausreisen.
Madjid Mohit, Verleger des Sujet-Verlags in Bremen, versichert auf Anfrage, dass der Schriftsteller das türkische Manuskript noch vor seinem Tode habe abschließen können. Anschließend habe sich Recai Hallac an die Übersetzung ins Deutsche gemacht. „In einem Gespräch über sein Werk“, so Madjid Mohit, „hat Dogan die Bedeutung deutsch-türkischer Geschichte für seine Arbeit betont.“ Ähnlich wie in „Madonnas letzter Traum“ greife auch „Sankofa“ diese Thematik auf und setze sich intensiv mit Fragen zum Rassismus und zur Täter-Opfer-Dynamik auseinander. Der Verleger ist überzeugt davon, dass der Nachlass des Autors „noch zahlreiche ungenutzte Potenziale“ biete. Als nächste Veröffentlichung sei der Roman „Fassil“ im Gespräch – der befasse sich mit den „komplexen Rollen von Folterern und Gefolterten“.
Zu Fuß in die Türkei
„Sankofa“ handelt von politischer Unterdrückung und gelebter Solidarität, wie sie Dogan Akhanli selbst erfahren hat. Gleichwohl ist es weder ein Dokumentarroman noch eine Autofiktion. Auf über 500 Seiten und in vier Großkapiteln werden starke Persönlichkeiten vorgestellt. Mit Selbstbewusstsein und Energie gelingt es ihnen, sich trotz vieler Widrigkeiten zu behaupten.
Da sind Tayfun, der nach sechseinhalb Jahren aus einem Militärgefängnis fliehen kann, und seine geliebte Gülen. Da ist der Oberleutnant, der Taifuns 2370 Liebesbriefe aus der Haft liest und danach ein anderer Mensch ist. Da ist Maria, die eigentlich Esra heißt und einer Zwangsheirat zu entkommen versucht. Da sind der Schauspieler Saxarat, der zu Fuß 4000 Kilometer in sein Dorf zurückgeht, und der Regisseur Kunduz, der auf der Bühne stirbt. Schließlich sind da noch Tom und May, die nach Familienspuren in Buenos Aires und New York suchen. Sie alle stehen untereinander in Verbindung. Köln ist für die Heldinnen und Helden des Romans der zentrale Fluchtpunkt. Doch der Friede, den sie sich in Deutschland erhofft haben, wird brutal gestört durch die rechtsradikalen Mordanschläge. Dafür stehen die Ortsangaben Rostock-Lichtenhagen, Mölln, Solingen und die Keupstraße in Köln.
Sehnsucht nach Freiheit
Bannende Momente prägen vor allem die erste Hälfte des Romans. Dort finden Poesie und Tragik in besonderer Intensität zueinander – bei Taifun und Gülen, beim Oberleutnant, der zur Fotografie wechselt, bei Esra-Maria. Dabei macht der allwissende Erzähler, wenn ihm danach ist, auch mal einen Schritt zurück, um Ereignisse erneut, aber aus einem anderen Blickwinkel zu beleuchten.
Dogan Akhanli hat sich schon in seinen Prosawerken „Die Richter des Jüngsten Gerichts“ (2007), „Die Tage ohne Vater“ (2016) und „Madonnas letzter Traum“ (2019) mit Unterdrückung und Aufbegehren befasst. Doch keines seiner vorangegangenen Werke hat einen solchen Reichtum an Stimmen und Schicksalen zu bieten wie dieses Polit-Epos. „Sankofa“ liest sich wie die Summe eines Lebens. Die Sehnsucht nach Freiheit und Menschenwürde bestimmt jede Zeile. Der Roman schaut zurück, um voranzukommen – wie der mythische Vogel der Erinnerung.
Martin Oehlen
Eine Buchpräsentation
findet am 3. Dezember um 19.30 im Literaturhaus Köln statt. Dann sprechen Übersetzer Recai Hallac und Schriftsteller und Journalist Gerrit Wustmann über „Sankofa“.
Dogan Akhanli: „Sankofa“, deutsch von Recai Hallac, Sujet Verlag, 564 Seiten, 29,80 Euro.

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