Chili con Carne mit Angela Davies: David Wagner lässt in „Verkin“ ein schillerndes Leben Revue passieren

Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Ist Verkin, die Zentralfigur in David Wagners gleichnamigem Roman, eine neue Scheherazade? Zwar muss die Türkin mit den armenischen Wurzeln nicht wie die kluge Perserin in „Tausendundeiner Nacht“ beharrlich Geschichten vortragen, um am Leben zu bleiben. Gleichwohl kann auch Verkin vom Erzählen nicht lassen und reiht eine Episode ihres Lebens an die andere. Da kommt man aus dem Staunen nicht heraus. Denn die wohlhabende Verkin hat intensiv aufgespielt – im Privaten und in der Öffentlichkeit, in Berlin und Paris, in der Schweiz und in den USA. Aber vor allem in der Türkei. Kann das alles wahr sein?

Ein veritables Vorbild

Für Verkin, die die deutsche Sprache liebt, gibt es ein veritables Vorbild. David Wagner hat selbst den Hinweis auf Verkin Arioba Kasaoglu gegeben. Zudem hält sie auf ihrem Instagram-Account die literarische Neuerscheinung in die Kamera. Allerdings hat David Wagner kein Sachbuch geschrieben, sondern einen Roman. Was wahr und was erfunden ist – das auseinanderzuhalten, ist ein müßiges Unterfangen.

Einen Plot alter Ordnung hat dieser Roman nicht zu bieten. Auch strebt er nicht nach dramatischer Zuspitzung. Vielmehr setzt der Autor, der mit großer Detailfreude ans Werk geht, ganz auf die kräftigen Farben der Vita. Diese sind so intensiv wie die Farben auf dem Buchcover – blutrot wie die türkische Fahne, tiefblau wie der Bosporus und gülden wie die Sonne über dem Goldenen Horn. 

„Look it up!“

Der Erzähler im Roman, der David heißt und überhaupt viele Parallelen zu seinem Autor aufweist, agiert als moderner Eckermann. Er schreibt auf, was ihm die schillernde Großbürgerin bei seinen vielen Reisen in die Türkei preisgibt. Vordergründiger Anlass für diese Besuche ist ein Buchprojekt: David will eine Untersuchung über den Boom der Shopping Malls in der Türkei verfassen. Doch in dem Buch, das wir nun lesen, kommen die Basare unserer Zeit nur am Rande vor. Stattdessen wird eine Verkin-Szene an die andere gehängt – wie Kleidungsstücke auf einer Wäscheleine.

Dabei ist der Erzähler nicht nur Stichwortgeber. So erlaubt er es sich, die Geschichten zuweilen auf seinem Smartphone zu überprüfen. Ja, Verkin fordert ihn geradezu dazu auf: „Look it up!“ Beim bildungsbürgerlichen Pingpong zwischen den beiden, dem flotten Austausch von Zitaten, Szenen, Songtiteln, ist er ganz auf der Höhe. Auch bringt er immer wieder seine eigene Vita ins Spiel. Das sind dann rheinische Intermezzi zwischen Friedhofsbesuch und Klavierunterricht. Und er wagt es, Distanz zu signalisieren, wenn Verkin ihre Unterstützung für den türkischen Präsidenten Erdogan und seine AK Parti zum Besten gibt. Schließlich stellt er fest: „Ich glaube dir fast alles, Verkin, ich bin nur nicht immer deiner Meinung.“

„Anatolischer Landschaftsfilm in langen Einstellungen“

Allein die Männer in Verkins Lebens füllen viele Seiten. Die Frau, die mit Witz und scharfer Zunge gesegnet ist, sagt über einen gewissen Detlev aus der Frühphase ihres Liebeslebens: „Wir lernten uns beim Tauchen kennen, vielleicht fiel mir deshalb nicht gleich auf, dass wir uns nicht viel zu sagen hatten.“ Und dann die zahlreichen Promis. Da ist Verkin nicht nur im B-Bereich unterwegs. In Berkeley steht sie mit Angela Davies in der Küche und lernt von ihr, wie Chili con Carne gekocht wird.

Mehr noch als mit dem Namedropping im Society-Trubel überzeugt der Roman mit seinen Einblicken in die Türkei. Da lernen wir zum einen die Faszination der Megametropole Istanbul kennen. Auch ziehen die Schönheiten der Landschaft vorbei – wie in einem Road Movie bis zum riesigen Vansee an der armenischen Grenze. Ein „anatolischer Landschaftsfilm in langen Einstellungen“, wie es im Roman heißt, „und Verkin ist die Stimme aus dem Off.“

„Geld war für mich Spielgeld“

Zum anderen werden die politisch-wirtschaftlichen Strukturen offenbart. Dazu zählt die Unterdrückung oppositioneller Kräfte, worunter nicht zuletzt Verkins Vater zu leiden hatte. Er hatte den Völkermord an den Armeniern überlebt und kam dann mit der Elektrifizierung der Türkei (Schalter, Stecker, Lampenfassungen) zu viel Geld. Doch der Staat setzte ihm zu mit Sondersteuern und Repressionen. Verkin sagt: „Im Gefängnis zu sitzen, gehört in der Türkei dazu.“

Überdies ist Bestechung, den Eindruck vermittelt Verkin im Roman, das täglich‘ Brot: „Geld war für mich immer auch Spielgeld, weil ich wusste, dass am Ende nur Verbindungen weiterhelfen.“ Wer heute das Sagen habe, gehöre morgen zu den Verlierern. Verkin fasst zusammen: „Willkommen im türkischen Surrealismus, mon cher.“

„Bewahrer des Wissens“

Der Vorname Verkin, dies muss noch gesagt werden, ist armenischen Ursprungs. In zoroastrischer Zeit, also weit vor Christi Geburt, trugen ihn die „Bewahrer des Wissens“, die Tempelhüterinnen. Auch die Romanheldin hat viel Wissen bewahrt, das sie hier freimütig weitergibt.

Dem Erzähler kommt es bei dieser Fülle so vor, als habe sie mehr als nur ein Leben gelebt. Verständlicherweise. Doch sie wiegelt ab. „Ich habe bloß versucht, so viel wie möglich mitzunehmen und überall mit möglichst vielen Menschen zu reden.“ Was für ein schönes Lebensmotto. Und glücklich jene, die es in die Tat umsetzen können.

Martin Oehlen

Lesungen

aus „Verkin“ mit David Wagner: im Literaturhaus Köln an diesem Donnerstag, 24. Oktober, um 19.30 Uhr; Moderation: Patrick Bahners – er übernimmt für die erkrankte Laura Cwiertnia (zum Duo Wagner-Bahners gibt es einen Buchmessensplitter HIER). Nachfolgende Auftritte mit diesem Roman (David Wagner ist auch mit anderen seiner Werke unterwegs): Braunschweig (2. 11. 2024), Berlin (7. 11.), Regensburg (13. 11.), Hamburg (24. 11.) und Wolfsburg (10. 12. 2024).

David Wagner: „Verkin“, Rowohlt, 390 Seiten, 26 Euro. E-Book: 24,99 Euro.

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