
Eine Arbeitersiedlung im Ruhrgebiet. „Auf Kohle gebaut, aus Kohle geboren, zu Kohle zerfallen und aus Kohle wiederauferstanden“. Rußgeschwärzte Häuser. Darüber ein bleigrauer Himmel. Es ist eine Stadt, in der man nicht bleiben möchte. So geht auch Hanna in den 1990er Jahren hinaus in die Welt und lässt ihre Kindheit hinter sich. Großvater Theo, der in seiner Freizeit aus Holzresten kleine Störche mit langen, spitzen Schnäbeln schnitzt. Großmutter Felizia mit den stets blitzsauberen Schürzen, die ihr die verstorbene Mutter ersetzt. Und natürlich Cem und Zeyna, mit denen sie seit Kindertagen eine enge Freundschaft verbindet.
„Diese Stelle im Brustkorb“
Mehr als 20 Jahre später kehrt Hanna zurück in die Stadt, „die niemals hell wird“, und zieht in die Wohnung der Großeltern. Nur gelegentlich verlässt sie das Haus. Man schreibt das Jahr 2020, die Corona-Pandemie hat den Globus Welt fest im Griff, der zweite Lockdown treibt viele Menschen in die Einsamkeit. „An frühen Winterabenden an Bushaltestellen drückt sie am härtesten zu“, weiß Hanna. Dann „umfasst sie diese Stelle im Brustkorb und macht das Atmen schwer.“
Bald vierzig Jahre alt ist sie inzwischen, eingeschnürt in ein Leben, in dem „die Zweifel immer und immer wieder das Ruder übernehmen“. Die Großeltern sind längst verstorben, mit Zeyna hat sie sich schon vor Jahren zerstritten. Allein Cem lebt noch in der Stadt. Man trifft sich gelegentlich.
Zwei verlorene Seele aus dem Libanon
Eindringlich schildert die deutsch-arabische Übersetzerin und Autorin Rasha Khayat in ihrem zweiten Roman „Ich komme nicht zurück“, den sie an diesem Mittwoch im Literaturhaus Köln vorstellt, wie die vereinsamte Hanna mehr und mehr von ihren Erinnerungen eingeholt wird.
Da ist jener Sommer Ende der 1980er Jahre, als die neunjährige Zeyna und ihr Vater Nabil in die Siedlung einziehen, zwei verlorene Seelen, die der Bürgerkrieg im Libanon nach Deutschland gespült hat. Zeynas Mutter ist in Beirut bei einem Bombenanschlag ums Leben gekommen, ihr gesamter Besitz ist verloren. In der Siedlung der grauen Stadt finden sie vorübergehend eine neue Heimat. Vor allem Hannas Großeltern bemühen sich um die Geflüchteten; der türkischstämmige Nachbarjunge Cem und die beiden Mädchen werden zu einem eingeschworenen Team, das scheinbar nichts und niemand trennen kann.
„Wir waren Türme gewesen füreinander“
Hanna blendet alles Trennende zwischen ihnen aus. „Du wolltest immer, dass wir alle gleich sind“, wirft ihr Cem bei einem ihrer seltenen Treffen vor. „Waren wir aber nie.“ Die ersten Risse in der Freundschaft zwischen Hanna, Cem und Zeyna zeigen sich nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001. Im Friseursalon in der Siedlung will sich niemand mehr von Zeyna bedienen lassen. Das Geschäft von Cems Eltern wird mit Steinen beworfen, ihm selbst rufen die Kollegen „Osama“ hinterher.
Allein für Hanna geht das Leben weiter wie bisher. „Wir waren Türme gewesen füreinander“, erinnert sie sich 2020 an jene Wochen nach dem 11. September. „Und nun gab es euch, und es gab mich. Ich rief euch an, lud euch zu uns in den Garten ein, wie früher, wie vor einem Jahr. Weil wir doch unzertrennlich sind. Doch der Zauber war gebrochen.“
„Wir werden sehen“
Nach dem Tod von Großvater Theo kommt es zum Zerwürfnis zwischen Zeyna und Hanna. Die Gründe sind nicht politischer Natur, doch schwerwiegend genug für einen Kontaktabbruch. Ob man noch einmal anknüpfen kann an die Vergangenheit, ob ein Neustart möglich ist, auch wenn das Trennende überwiegt? All das ist Thema in Rasha Khayats berührendem Roman über Freundschaft, Einsamkeit und die Macht der Erinnerung.
„Wir werden sehen“, schreibt Zeyna, als Hanna zum wiederholen Male versucht, Kontakt mit ihr aufzunehmen. Wir werden sehen, ob wir uns mal wieder sehen.
Petra Pluwatsch
Premierenlesung in Köln
mit Rasha Khayat im Literaturhaus Köln am Mittwoch (4. September) um 19.30 Uhr. Moderatorin ist die Schriftstellerin Lena Gorelik, von der 2021 der Roman „Wer wir sind“ (Rowohlt) erschienen ist.
Weitere Lesungen

Rasha Khayat: „Ich komme nicht zurück“, DuMont, 176 Seiten, 24 Euro, E-Book: 19,99 Euro.
