Traumata wirken über Generationen hinweg: Nadine Olonetzky schildert das Schicksal ihrer deutsch-jüdischen Familie in „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“

Auf die Suche nach ihren Vorfahren begibt sich Nadine Olonetzky in ihrem Buch „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“ . Unsere Abbildung zeigt eine Figurengruppe des Bildhauers Adrian Fahrländer, die im Rahmen der Ausstellung „As Time Goes By“ im schweizerischen Murten zu sehen war. Foto: Bücheratlas / M.Oe.

Wie hast du die Zeit im Arbeitslager überstanden, als du 14 Stunden am Stück arbeiten musstest? Was hast du empfunden, als dein Vater Moritz nach Izbica bei Lublin deportiert wurde? Als du nichts mehr von deiner Schwester Anna hörtest? Als deine übrigen drei Geschwister vor den Nazis nach Palästina flohen? Als du den „Judenstern“ tragen musstest? All diese Fragen hätte Nadine Olonetzky ihrem Vater gerne gestellt. Ob sie eine Antwort darauf bekommen hätte, ist fraglich.

Spurensuche in der Vergangenheit

Einmal nur hat der Holocaust-Überlebende Benjamin Emil Olonetzky der Tochter von seiner Familie und seiner Flucht aus Nazi-Deutschland in die Schweiz im Jahr 1943 erzählt. Da war sie 15 Jahre alt, und die Eltern hatten sich schon lange im Bösen getrennt. Erst viele Jahre später beginnt die Schweizer Autorin, Nachforschungen über das Schicksal ihrer deutsch-jüdischen Familie anzustellen. Aus ihren Recherchen ist ein eindrucksvolles, sehr persönliches Buch entstanden: „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“.

Nadine Olonetzky erzählt darin von den Antworten, die sie gefunden hat, schreibt sie im Prolog. Und von den Fragen, auf die es keine Antworten gebe. „Ich erzähle davon, wie sich das Geschehene auf die Überlebenden, auf unsere Familie und meine Kindheit auswirkte und welche Rolle die Fotografie in unserem Leben bekam.“

Eine Mauer aus Fotografien

Nadine Olonetzky wächst mit einem jüngeren Bruder in der scheinbaren Geborgenheit einer gutbürgerlichen Schweizer Mittelstandsfamilie auf. Die Mutter ist Illustratorin, der Vater, 1917 in Stuttgart geboren, hat eine eigene Firma und ist ein begeisterter Hobbyfotograf. Seine Bilder von Geburtstagsfeiern, gemeinsamen Urlauben und gestellten Alltagsszenen füllen viele Alben. „Die Alben erzählen die Familienereignisse in Fragmenten“, schreibt Nadine Olonetzky. „Sie sind zunächst fröhlich, dann gewöhnlich und sogar langweilig, zum Schluss melancholisch und geradezu verstört, denn da war schon alles in Schieflage.“

Erst als die Kindheit lange hinter ihr liegt, begreift sie, was den Vater fast manisch zur Kamera greifen ließ. „Er stemmte sich gegen das unerbittliche Fließen der Zeit. Er feierte das Erreichte, das greifbare Leben in der Gegenwart.“ Immer wieder lässt der Vater die Familie antreten – „lächeln!“ –, um sich seines eigenen Überlebens zu vergewissern.  Die Fotos, erkennt Nadine Olonetzky, sind Steine, „mit denen er eine Mauer baute. Eine hohe und lange Mauer gegen jene Welt, in der Dinge geraubt worden waren und Menschen ohne Grund oder Recht verschwanden und in der irgendwann alles sinnlos in Trümmer lag“.

Brüche in der Psyche

Die Geister der Vergangenheit kann er auf diese Weise nicht bannen. Ganz im Gegenteil: Das „Verschwiegene, Unvorstellbare“ nimmt mehr und mehr Raum ein in der Familie Olonetzky. „Es war wie nichts, es gehörte dazu.“ Das Kind Nadine spürt die Brüche in der Psyche des traumatisierten Vaters, der nach außen den erfolgreichen Geschäftsmann und Charmeur mimt. In den Ecken ihres Zuhauses, einer komfortabel ausgestatteten Villa mit jedem nur erdenklichen modischen Schnickschnack, erahnt sie die „Skelette“ der Toten, und nachts schreit sie vor Angst, ohne zu wissen, wovor sie sich fürchtet.

Auch Nadine Olonetzky, die Nachfahrin des Holocaust-Überlebenden, wird Jahre brauchen, ehe sie bereit ist, sich den Geistern der Vergangenheit zu stellen. Doch irgendwann will sie mehr erfahren über Großvater Moritz, dessen Schicksal ungeklärt ist. Über die Tante, von der es stets nur hieß, dass sie gestorben sei. Das Wort „ermordet“ kommt dem Vater nur einmal über die Lippen.

Weg zur Heilung

Akribisch geht die Autorin den Spuren ihrer jüdischen Familie nach und leitet damit ihren eigenen Heilungsprozess ein. Ihre Ängste, erkennt sie, sind die ihres Vaters, die der unbewusst an sie weitergegeben hat.

Doch dieser manchmal zu laute, zu dominante Vater, der schwieg statt zu reden, hat ihr noch etwas anderes mitgegeben: seine unbändige Lebenskraft. „Es ist dieselbe Energie, die auch ihm half, der Angst zu begegnen, die zeitlebens in ihm steckte.“ Dafür ist ihm Nadine Olonetzky dankbar. Im März 2022 ließ sie in Stuttgart Stolpersteine für ihn und vier weitere Familienangehörige verlegen.   

Petra Pluwatsch

Nadine Olonetzky: „Wo geht das Licht hin, wenn der Tag vergangen ist“, S. Fischer, 448 Seiten, 25 Euro. E-Book: 19,99 Euro.   

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