
Am Anfang waren die Pflastersteine. Mit einer Fotografie des Straßenbelags, aufgeschichtet zu einem kleinen Hügel, beginnt offiziell die Karriere des Fotografen Robert Doisneau (1912-1994). Nun erscheint im Taschen Verlag, rechtzeitig zum olympischen Großereignis in Frankreich, eine aktualisierte Neuausgabe der Monografie von Jean Claude Gautrand (1932-2019) aus dem Jahr 2003: „Robert Doisneau – Paris“. Es ist nichts weniger als ein Schatzhaus der Bildkunst – poetisch und pointiert, melancholisch, humorvoll und mitfühlend. In der Hauptrolle: Paris.
Der Fänger der Alltagsmomente
Der französische Meister ist der Fänger der Alltagsmomente und der Porträtist der magischen Metropole. Die frühen Bilder, die späten Bilder – sie sind durchweg sehenswert. Doch es sind vor allem die Fotografien aus dem Paris der Jahre zwischen 1945 und 1960, in denen der Zeitgeist am intensivsten zum Ausdruck kommt.
Das bringt schon die Gewichtung in diesem Band zum Ausdruck: Dieses dritte von fünf chronologisch angeordneten Kapiteln nimmt die Hälfte des gesamten Buches ein. Hier leuchtet die Metropole, wie man sie nicht schöner träumen kann, mit Cafés und Bistros, mit Simone de Beauvoir und Jacques Prévert. Mon dieu, hier ist Paris ganz bei sich, ganz bei uns.

Mit Melancholie und Mitgefühl
Robert Doisneaus Fotografien, schreibt Jean Claude Gautrand, wirken vollkommen authentisch: „Jedes seiner Bilder ist letztlich ein Selbstporträt des Mannes, der sich durch seine menschliche Wärme, Feingefühl, Takt und Respekt vor den Mitmenschen, vor allem aber durch einen unglaublichen Sinn für Solidarität auszeichnete.“ Fast alle erzählen eine Geschichte, deren Ende offen ist. Sie werden vom Herausgeber nur mit den elementaren Hinweisen versehen – zu Person, Ort, Datum. Die gelegentliche Kommentierung überlässt er Robert Doisneau. Da finden sich Zeilen wie diese: „Das Bistro als Erste-Hilfe-Zentrum für Melancholiker.“
Nie macht sich Robert Doisneau über seine Protagonistinnen und Protagonisten lustig. Auch verklärt er sie nicht oder stellt sie bloß, sondern belässt ihnen ihre Würde. „Melancholie und Mitgefühl“ seien möglicherweise unbedeutende Werte, sagte er einmal, „aber sie sind es, die mich am meisten bewegen.“
Die Gréco und der gähnende Dackel
Sollen wir andeuten, wem alles Robert Doisneau seine Aufmerksamkeit geschenkt hat? Den Akkordeonspielern und den Seilchenspringerinnen, den Fabriken und Großraumbüros, der deutschen Besatzung und der Befreiung von den Deutschen, den Kindern und den Verliebten, den Concierges und den Künstlern. Pablo Picasso scheint zu allen Clownerien bereit zu sein, Juliette Gréco blickt versonnen auf ihren gähnenden Dackel, Alberto Giacometti lächelt in die Kamera und Jacques Tati betrachtet sein Fahrrad, das er für die Aufnahme zwei Stunden lang in seine Einzelteile zerlegt hat.
In seinen frühen Jahren, noch vor dem Zweiten Weltkrieg, war Robert Doisneau eine Weile Werksfotograf bei Renault in Billancourt; 1939 wurde er dort entlassen „wegen wiederholten Zuspätkommens“. Und Modefotografie hat er ebenfalls betrieben, von 1949 bis 1951 für die „Vogue“. Allerdings ist er damit, eigenen Angaben zufolge, nicht glücklich geworden.

„Verliebte in Paris“
Nicht selten sind es „Schnappschüsse“, die gesichert sind für die Ewigkeit: Die Braut in der Kneipe, der Monsieur mit dem Kaninchen im Grünen, der Schüler beim Schielen in der Schule. Die Herangehensweise beschreibt Robert Doisneau an einem konkreten Fall: „Außerhalb der Fabrikmauern, aber nicht so weit von ihnen entfernt, ging ich immer hin und wartete, nicht auf irgendein Ereignis … sondern auf wer weiß was, mit einer unvernünftigen Hartnäckigkeit, die manchmal mit etwas belohnt wurde, das mir wie ein Strahl der Schönheit vorkam aus der grauen Umgebung.“
Allerdings übernahm Robert Doisneau zuweilen selbst die Regie, um die Szenen seines Pariser Welttheaters zu optimieren. „Le Baiser de l’Hôtel de Ville“ gilt als sein berühmtestes Bild und ziert folgerichtig das Cover des Bandes; aufgenommen hat er es im Auftrag des Magazins „Life“, das sich dem Thema „Verliebte in Paris“ widmen wollte. Tatsächlich hat der Fotograf das Paar im Jahr 1950 zufällig beim Küssen beobachtet. Aber ohne Kamera. Zum Glück waren es Schauspielschüler. Also bat er die beiden darum, die Szene gegen Entlohnung zu wiederholen. An unterschiedlichen Orten in der Stadt. Doch ikonisch wurde die Kuss-Version vor dem Rathaus. Sie bekräftigte den Ruf, das Klischee, den Traum von Paris als Stadt der Liebe.

Im Pantheon der Fotografie
Im frischen Vorwort für die Neuausgabe beschreiben Francine Deroudille und Annette Doisneau ihren Vater als „hartnäckigen Arbeiter“. Und sie erinnern sich an einen seiner Scherze: „Für einen Fotografen sind die ersten siebzig Jahre ziemlich mühsam, danach geht es bergauf.“ Tatsächlich gab es auch in der Karriere des Fotografen „schwierige Jahre“, wie ein Kapitel für den Zeitraum zwischen 1960 und 1980 überschrieben ist. Und heute? Da sitzt Robert Doisneau, das bezeugt dieser Band in herrlicher Fülle, fest im Pantheon der Fotografie.
Martin Oehlen
Jean Claude Gautrand: „Robert Doisneau – Paris“, Taschen Verlag, dreisprachige Ausgabe (englisch, französisch, deutsch), 440 Seiten, 50 Euro.
