Wenn die Eltern versagen: Amélie Nothombs anrührender Familienroman „Das Buch der Schwestern“

Sie sind keine Engel, die Schwestern in Amélie Nothombs Roman, aber sie schreiben sich Briefe und stützen einander. Foto: Bücheratlas/M.Oe.

Eine missglückte Mutter-Tochter-Beziehung, eine toxische Familienkonstellation. Man kennt diese Geschichten über verkorkste Lebensentwürfe und krachend gescheiterte Ehen, die ihre Wurzeln in einer Kindheit ohne Liebe haben. Auch Amélie Nothomb, französische Erfolgsautorin mit einer langen Reihe von Veröffentlichungen, hat sich in ihrem Roman „Das Buch der Schwestern“ des sattsam bekannten Themas angenommen. Doch was hat diese Frau daraus gemacht! Ein zutiefst anrührendes Werk über das Wunder der Liebe zwischen zwei vernachlässigten Kindern, die einander das geben, was ihre Eltern ihnen versagen: Wärme, Fürsorge und Zuneigung.

„Kein Platz am Set“

Tristane und ihre fünf Jahre jüngere Schwester Laetitia werden von ihren Eltern zwar bestens versorgt, doch Liebe erfahren sie nicht. Das junge Ehepaar, dauerverliebt seit dem ersten Zusammentreffen, ist sich selbst genug, und das Gründen einer Familie war wohl eher den allgemeinen Konventionen als dem Wunsch nach gemeinsamen Kindern geschuldet.

Vor allem Tristane leidet unter dem Desinteresse der Eltern. Für sie sei „kein Platz am Set“, merkt sie schon bald nach der Geburt. Ungehört verhallt ihr nächtliches Geschrei, bis sie aufgibt und zu einem stummen, braven Kind wird. Dass ihre Tochter blitzgescheit ist, entgeht den Eltern ebenso wie deren tiefe Traurigkeit. „Das Casting für diesen seltsamen Dreh enthielt eine Mitspielerin zu viel“, erkennt Tristane. „In dem Film gab es nur zwei Hauptfiguren: die jungen Liebenden.“

„Eine Liebe jenseits jeder Ordnung“

Erst durch die Geburt ihrer Schwester Laetitia erfährt die Fünfjährige „eine Liebe jenseits jeder Ordnung, ein Phänomen, das umso mächtiger war, als es in keine Schublade passte“. Auch wenn sie fürchtet, dass sich der Schaden nie wiedergutmachen lässt, den fünf Jahre ohne elterliche Fürsorge angerichtet haben. „In ihren Augen leuchtete nicht die Glut der allerersten Liebe. Für sie würde es immer zu spät sein.“

Auch als Erwachsene halten die Schwestern zusammen. Gemeinsam gelingt es ihnen, sich freizumachen von den Ansprüchen der inzwischen verwitweten Mutter und sich zu starken, selbstbewussten und bindungsfähigen Frauen zu entwickeln. Es gibt ein Leben nach der Kindheit, das lehrt uns dieses wunderbare Buch. Und dieses Leben muss beileibe nicht schlecht sein.

Petra Pluwatsch

Auf diesem Blog

haben wir Amélie Nothombs Roman „Der belgische Konsul“ HIER vorgestellt.

Amélie Nothomb: „Das Buch der Schwestern“, deutsch von Brigitte Große, Diogenes, 160 Seiten, 23 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

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