
Demon wird mit einer „Glückshaube“ auf dem Kopf geboren. Auf den dreckigen Vinylfliesen eines alten Trailers schiebt er sich Zentimeter um Zentimeter ins Leben und steckt dabei „noch immer in dem Sack, in dem die Babys schwimmen vor dem echten Leben“. Doch viel Glück ist diesem „Demon Copperhead“, dem Titelhelden in Barbara Kingsolvers gleichnamigen Roman, nicht beschieden. Der Vater tot, die Mutter ein Junkie. Mit 29 Jahren katapultiert sich die Supermarktverkäuferin mit einer Überdosis des Schmerzmittels Oxycodob endgültig ins Jenseits. Da ist Ich-Erzähler Demon elf Jahre alt und fortan eine „Geisel“ des Jugendamts. „Ein verdorbenes Stück vom amerikanischen Kuchen, vom dem sich alle wünschen, es würde, na ja, ihr wisst schon… entfernt.“
„Hauptsache, noch am Leben“
„Hillbillys“ nennt man im Rest von Amerika Menschen wie Demon und seine Freunde und Nachbarn aus Lee County, Virginia. Hinterwäldler, die in einer der ärmsten Regionen der USA in Trailern und heruntergekommenen Arme-Leute-Siedlungen leben. Für Comedians und Comiczeichner sind die Loser aus den Appalachen, die ihre Latzhosen angeblich mit der Kneifzange zumachen, willkommene Opfer.
Sie selbst, ehemalige Tabakfarmer und frühverrentete Grubenarbeiter mit zerstörten Lungen und pfeifenden Bronchien, haben sich längst aufgegeben. Die Arbeitslosenquote in der Region ist hoch, die Jugendlichen kiffen sich schon mit zwölf, dreizehn Jahren um den Verstand. „Hauptsache, noch am Leben“, sagt Damon, als der Elfjährige gefragt wird, was er einmal werden wolle. „Wir sind eben Amerikas Hunde.“
Ausgezeichnet mit Pulitzer-Preis
Ihnen allen hat Barbara Kingsolver mit ihrem grandiosen Epos, für das sie 2023 den Pulitzer-Preis für Belletristik erhielt, ein literarisches Denkmal gesetzt. Sie habe einen Roman über eine Region schreiben wollen, die Schaden genommen habe, sagt die Autorin in einem Interview mit dem Verlag. „Über die Kinder und Jugendlichen, die Schaden genommen haben“ und über „Leute, die der übrigen Welt offensichtlich vollkommen egal waren“.
Barbara Kingsolver, 1955 in Annapolis, Maryland, geboren und in Kentucky aufgewachsen, bezeichnet sich selbst als appalachische Schriftstellerin. Sie weiß um die Vorurteile, die den Bewohnerinnen und Bewohnern aus den abgelegenen Gegenden von West-Virginia, von Kentucky, vom Norden Georgias und dem Osten Tennessees entgegengebracht werden. „Ich brauchte nur über den Fluss nach Indiana zu gehen, und schon wurde mir klargemacht, wie dumm und rücksichtslos wir in Kentucky so sind“, erzählt sie. Sie sei wegen ihres Akzents ausgelacht worden, und habe lange gebraucht, zu sich selbst und ihrer Herkunft zu stehen.
Rotschopf mit Selbstironie
„Demon Copperhead“, der in den 1990er Jahren spielt, orientiert sich an dem sozialkritischen Roman „David Copperfield“ von Charles Dickens aus dem Jahr 1850. Sie habe mit Dickens an ihrer Seite geschrieben, sagt die Autorin. Doch nach und nach habe „Demon Copperhead“ seinen eigenen Rhythmus gefunden. Jetzt könne er für sich selbst stehen.
Wesentlich zum Gelingen von „Demon Copperhead“ trägt zweifellos der lässig-lockere Erzählton ihres Protagonisten bei. Rotzfrech und mit einer gehörigen Portion Selbstironie erzählt dieser lebensstarke Rotschopf vom Leben in Lee County. Von seinem schwulen Freund Maggot, der Nasenpiercings trägt und in die Gothic-Szene abdriftet. Von Mr. Peggot, dem freundlichen alten Nachbarn, der ihn zum Angeln mitnimmt. Und nicht zuletzt vom Zusammenhalt der „Hillbillys“, die wissen, dass der Rest von Amerika auf sie pfeift.
Der Weg aus der Sucht
Auch Demon, der Sohn einer „Junkie-Braut“, driftet ab in den Sumpf der Drogensucht. Der erste Pflegevater, an den ihn das Jugendamt vermittelt, missbraucht ihn als billige Arbeitskraft bei der Tabakernte. Der nächste lässt ihn auf einer Müllhalde schuften. Coach Winfield, der Football-Trainer der örtlichen High School, verspricht ihm eine große Karriere. Und mustert den aufstrebenden Jungstar kommentarlos aus, als der nach einem Sportunfall nicht mehr voll einsetzbar ist. Die Schmerzmittel, die ihm ein skrupelloser Arzt verschreibt, ebnen Demons Weg in die Sucht, aus der er erst Jahre später herausfinden wird.
All das ist großartig beschrieben und genial von Dirk van Gunsteren ins Deutsche übersetzt. Und so möchte man diesem Demon Copperhead selbst nach mehr als 800 Seiten weiter zuhören. Möchte wissen, ob er es schafft, clean zu bleiben und ein berühmter Comiczeichner zu werden. Die Aussichten für beides stehen nicht schlecht.
Petra Pluwatsch
Lesungen
Deutsche Buchpremiere am 11. März 2024 um 19 Uhr im Literaturhaus München (Moderation: Denis Scheck, deutsche Stimme: Robert Stadlobe, Eintritt: 15 Euro, erm. 10 Euro). Anschließend am 12. März um 18 Uhr auf Einladung der lit.Cologne im WDR-Funkhaus (Moderation: Bernard Robben, deutsche Stimme: Robert Stadlober, Eintritt: 28 Euro, erm. 24 Euro, VVK 22 Euro); 13. März im Literaturhaus Frankfurt am Main (Moderation: Denis Scheck, deutsche Stimme: Robert Stadlober, Eintritt: 12 Euro, erm. 8 Euro); 14. März auf Einladung des Literaturhaus Hamburg im Magazin-Filmkunsttheater (Moderation: Alexandra Friedrich, deutsche Stimme: Robert Stadlober, Eintritt: 14 Euro, erm. 10 Euro).
Barbara Kingsolver: „Demon Copperhead“, dt. von Dirk van Gunsteren, dtv, 26 Euro, 832 Seiten. E-Book: 22,99 Euro.

Ach das ist ja interessant. Es gibt noch einen aktuell erschienenen Roman mit einem in einer Glückshaut geborenen Kind: von Katrin Hensel. Kann ich sehr empfehlen. Demnächst auf dem Blog. Viele Grüße!
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Wunderbar! Der Roman war mir noch nicht untergekommen (aber selbstverständlich habe ich ihm gleich mal nachgespürt). Vielen Dank für den Hinweis. Ich bin gespannt, ob auch in diesem Falle die Literatur leuchtet, und freue mich auf die Rezension.
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