Abschied vom Elternhaus: „Ein Bungalow“ von Inghill Johansen ist das eindrucksvolle Porträt einer Frau zwischen Zweifel und Aufbruch

Foto: Bücheratlas

Das Haus hat seine Seele verloren. Das Dach hängt schief, bei zwei Schranktüren in der Küche haben sich die Angeln gelockert. Im Flur wölbt sich der Bodenbelag, selbst der Warmwasserbereiter hat den Geist aufgegeben. „Es sieht so aus, als hätten sich alle Dinge nur aus Höflichkeit an ihrem Platz gehalten, doch jetzt, wo Mutter weg ist, ist ihnen die Anstrengung zu viel“, erklärt die namenlose Ich-Erzählerin den langsamen Verfall ihres Elternhauses. Wenige Tage zuvor ist die Mutter, in ihre Bettdecke gehüllt, auf einer Krankentrage abtransportiert worden. Die alte Dame wird nicht zurückkehren in den Bungalow mit dem sanft geschwungenen Walmdach, in dem sie viele Jahre gelebt hat. „Sie soll weg. Weg von den Wänden, weg von der Zimmerdecke, weg von den Möbeln.“

Angriff auf die Psyche

Die Tochter bleibt allein zurück in dem Haus, das einst ihr Großvater baute und das ihr nach dem Tod der Mutter zunehmend zur Last wird. Es bohre sich in sie hinein und schwäche sie, beschreibt sie die Wirkung des alten Gebäudes auf ihre Psyche. „Es ist im Begriff, die Kontrolle über mich zu übernehmen, mich zu verschlucken, obwohl eigentlich das Gegenteil geplant war.“

Eindringlich schildert Inghill Johansen in ihrem Buch „Ein Bungalow“ den Ablösungsprozess der Erzählerin von ihrem Elternhaus. Ein Makler soll das ungeliebte Objekt verkaufen, was wohl nicht gelingt. Letztendlich droht die Abrissbirne.

Kunstvolles Puzzle

In ihrer norwegischen Heimat ist die 1958 geborene und mehrfach ausgezeichnete Autorin bekannt für ihre Kurzprosa, und auch „Ein Bungalow“ (das erste von sechs Büchern der Autorin, das ins Deutsche übertragen wurde) gleicht einem kunstvollen literarischen Puzzle. Meist umfassen die Kapitel nur wenige Seiten, einige sind sogar kaum 20 Sätze lang. Sie enthalten Alltagsbeobachtungen, kleine Anekdoten und von Wehmut geprägte Kindheitserinnerungen – Gedankenschnipseln gleich, die einem durch den Kopf schießen und doch so dicht erzählt sind, dass man manche von ihnen gleich zweimal lesen muss. Auf diese Weise entsteht Kapitel für Kapitel das Porträt einer einsamen, verunsicherten Frau.

Sie arbeitet – wie die Autorin selbst – als Lehrerin und träumt in unruhigen Nächten davon, zu spät zum Unterricht zu kommen. „Es ist der erste Tag, und ich finde den Weg nicht. Ich habe einen Stapel Bücher unter dem Arm, sie entgleiten meinem vermeintlich festen Griff, die glatten Einbände, die dünnen Hefte, sobald eins sich löst, rutschen die anderen hinterher.“

Die Sache mit dem Bauchnabel

Ihre Hände, ihre Fingernägel, selbst ihr Bauchnabel werden zum Gegenstand knapper, mitunter humorvoller Selbstanalysen, die von Ängsten und Selbstzweifeln erzählen. So sei ihr Nabel, schreibt die Erzählerin, bei ihrer Geburt versehentlich durch einen Schnitt verletzt worden. Jetzt gähne in ihrer Mitte ein dunkles Loch, das sie ständig zu füllen suche. Doch sie wisse nicht, womit. „Vielleicht ist es unmöglich, vielleicht gibt es keinen Boden. Vielleicht ist es nur ein Loch, das niemals endet, eine Art Öffnung zu etwas Düsterem.“  

Doch es gibt Hoffnung. Sie sei im Begriff, eine andere zu werden, heißt es im letzten Kapitel dieses klugen und vielschichtigen Buches. Sie wisse nur nicht, wer, und das mache sie so wenig greifbar. „Ich kann in einen x-beliebigen Zug steigen und zu einer x-beliebigen Person werden.“

Petra Pluwatsch

Inghill Johansen: „Ein Bungalow“, dt. von Ina Kronenberger, Stroux edition, 156 Seiten, 22 Euro.  

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