
Godzilla hatte sich gut versteckt. „Wie Minotaurus in seinem Labyrinth“ lauert das „Aneurysma Pericallosa“ im Kopf der Autorin, „blutgefüllt, prall und rund, geduldig und unerkannt“. Bis es eines Abends platzt. „Ein kleiner, scharfer Knall mitten in meinem Kopf, ein Schnalzen wie einer dieser Klicklaute aus afrikanischen Khoisansprachen. Dann dieser Vulkanausbruch“ – ein Schmerz wie Evelyn Roll, Redakteurin bei der „Süddeutschen Zeitung“, ihn noch nie gespürt hat. „Zwölf auf der Skala eins bis zehn.“
Mit letzter Kraft informiert sie ihren Mann. Der ruft den Rettungswagen. Ein riskanter Eingriff am geöffneten Schädel rettet ihr schließlich das Leben. Godzilla im Kopf der Patientin, von der Blutzufuhr abgeschnitten durch eine winzige Klammer, ist tot. Doch sie selber ist eine andere als zuvor.
Schicht für Schicht
Es sei, als habe sie sich selbst die Schädeldecke geöffnet, schreibt Evelyn Roll in ihrer außergewöhnlichen Autobiografie „Pericallosa – Eine deutsche Erinnerung“. Als sei sie eigenhändig vorgedrungen in die Tiefen ihres Gehirns, um Schicht für Schicht eine Wunde freizulegen, die jederzeit wieder aufbrechen und alles vernichten könne.
Lange hat die heute 71-Jährige wie so viele der Boomer-Generation unter dem Schweigen der Eltern und Großeltern gelitten, die ihre Kriegstraumata verdrängten und sich von der Wirtschaftswunder-Euphorie der Nachkriegsjahre mitreißen ließen. Jetzt, in ihrem „zweiten Leben“, will sie sich endlich den „Verdrängungen, Lebenslügen, Familiengeheimnissen und blinden Flecken“ stellen.
„Wissen ist Versöhnung“
Leicht fällt ihr das nicht. „Möglicherweise fürchte ich mich auch vor dem, was ich nach der Operation erzählen will, erzählen muss“. Doch nur so könne sie sich zu dem Monster vorarbeiten, das sie für immer ruhigstellen wolle.
Für Evelyn Roll, 1952 in Lüdenscheid in eine wohlhabende Unternehmerfamilie hineingeboren, beginnt damit eine Reise in die Vergangenheit, an deren Ende die Erlösung steht. Endlich verstehe sie, „was Familie bedeutet“, und wisse um die blinden Flecken und weißen Stellen in ihrer Familiengeschichte. Nie hätte sie gedacht, was dieses Wissen für einen Unterschied mache. „Wissen ist Versöhnung. Versöhnung ist Befreiung.“
Braune Stellen auf angeblich weißer Weste
Ihre Recherchen führen die mehrfach ausgezeichnete Journalistin auf Friedhöfe, in Archive, Kirchen und Standesämter. In Polen, der Heimat des Vaters, lernt sie Familienmitglieder kennen, von deren Existenz sie bislang nichts wusste. Sie begreift, was es mit der seltsam frostigen Ehe der Eltern auf sich hat, und erfährt von den braunen Stellen auf der angeblich weißen Weste eines Großvaters.
Doch vor allem erkennt sie, wie massiv die Verdrängungsmechanismen und die traumatischen Erfahrungen der Eltern ihr Leben und das ihrer Geschwister bestimmt haben. „Traumaerben“, „Schamerben“ seien sie gewesen, erzogen von einer Generation, die es nicht ausgehalten habe, Überlebtes, Überstandenes, Überwundenes wieder in die Gegenwart zu holen.
Sittengemälde der Nachkriegszeit
Doch Evelyn Roll ist viel zu klug, um der Elterngeneration daraus einen Vorwurf zu machen. Sie versteht sie ja, diese Menschen, die wie die Mutter einen ersten Partner im Krieg verloren haben. Die wie der Vater an der Front waren und Dinge erlebt und vielleicht sogar getan haben, über die sie nie mehr reden möchten. „Das schwarze Loch in ihnen war zu stark und zu gefährlich. Das Licht unserer Fragen und unseres Verstehenwollens wurde abgebogen oder verschwand in ihrem Dunklen für immer.“
So ist dieses großartige Buch, angereichert durch zahlreiche Exkurse über die neuesten Erkenntnisse der Hirnforschung, auch – oder vielleicht vor allem – ein Sittengemälde der Nachkriegszeit, geprägt von einem tiefen Verständnis für eine traumatisierte Generation, die schwieg, als sie hätte reden müssen.
Petra Pluwatsch
Evelyn Roll: „Pericallosa – Eine deutsche Erinnerung“, Droemer, 428 Seiten, 26 Euro. E-Book: 22,99 Euro.
