Was für ein großartiges Buch: Lina Nordquist erzählt in „Mein Herz ist eine Krähe“ von zwei unterschiedlichen Frauenleben

Foto: Bücheratlas

Eigentlich hat Lina Nordquist genug zu tun. Die Schwedin, 1977 in Norrala geboren, ist Professorin für Physiologie, hat sich einen Namen auf dem Gebiet der Diabetesforschung gemacht und sitzt für die Partei Liberalerna im schwedischen Reichstag. Sie hat Familie, ist einer entsprechenden Widmung zu Beginn des Buches zu entnehmen, und lebt in Uppsala.

Jetzt also hat sie auch noch einen Roman geschrieben. Einen Roman von solch erzählerischer Kraft, dass es einem glatt die Sprache verschlägt. Im Mittelpunkt dieses sinnlich-satten Sittengemäldes des 20. Jahrhunderts stehen zwei Frauen, Unni und Kara, die mehrere Jahrzehnte Lebenszeit trennen, und die doch durch ihre familiären Wurzeln eng miteinander verbunden sind. In Schweden wurde „Mein Herz ist eine Krähe“ 2022 als „Buch des Jahres“ ausgezeichnet, und auch in Deutschland dürfte der Roman das Zeug zu einem Bestseller haben.

Auf der Flucht vor dem Pfarrer

Lina Nordquist entführt ihre Leserinnen und Leser darin in die raue, von Naturkräften beherrschte Provinz Hälsingland im Südosten von Norrland, wo es mehr Bäume als Menschen gibt. Anfang des 20. Jahrhunderts flieht die blutjunge Unni mit ihrem Sohn Roar aus Norwegen nach Schweden.

In ihrer Heimat droht ihr die lebenslange Unterbringung in einer sogenannten Irrenanstalt. Sie habe schwangeren Frauen geholfen, ihre Kinder abzutreiben und führe ein „liederliches Leben“, so der Vorwurf des örtlichen Pfarrers. Eine Frau, die so etwas tue, müsse einfach verrückt sein. Für den Sohn, der auch der seine ist, verspricht er zu sorgen.

„Frieden“ heißt die Hütte im Wald

Gemeinsam mit ihrem Lebensgefährten Armod machen sich Unni und Roar auf den Weg nach Schweden, wo niemand ihre Geschichte kennt. Sie besitzt nur das, was sie auf dem Leib trägt: „ein mausbraunes Kleid, ein Schultertuch und eine abgenutzte weiße Bluse, das Loch im Kragen fein säuberlich gestopft“. An ihrem und Armods Finger stecken zwei Ringe, die sie dem Pfarrer gestohlen hat.

Eine verlassene Kate in den Wäldern von Hälsingland wird ihr neues Zuhause. „Frieden“, so nennen sie die bescheidene Hütte, in der die Mäuse hausen und der Wind durch die Ritzen pfeift. Schon bald wird ein zweites Kind geboren. Doch der Boden ist steinig, die Winter sind lang. Im Sommer droht eine Dürre die magere Ernte zu vernichten. Kaum können Armod und Unni die Raten für ihr Heim bezahlen.

Von Unni zu Kara

Eindringlich schildert Lina Nordquist das harte Leben der jungen Familie, die in bitterer Armut lebt und dennoch ihren Glauben an eine bessere Zukunft nicht verliert. Abends erzählt Armod den Kindern fantastische Geschichten, um sie von ihren leeren Bäuchen abzulenken, und wenn der Winter kommt, tanzt er zu ihrer Gaudi durch den Neuschnee, als begrüße er einen willkommenen Gast. Angst zu haben, bringe nichts, macht er Unni Mut, wenn die zu verzagen droht. Aber dann stirbt Armod, und die junge Mutter muss sich und die inzwischen drei Kinder allein durchbringen.  

Bald 80 Jahre später ist auch Roar tot. In der Hütte bereiten seine Frau Bricken und Schwiegertochter Kara die Beerdigung vor. „Erdbestattung und Sarg“, mehr gibt es dazu nicht zu sagen. Längst hat sich das Glück aus „Frieden“ davongemacht, die Möbel, die Armod einst zimmerte, sind morsch geworden, von den Wänden blättert die Farbe ab.

Das Schicksal meistern

Kara war mit Roars und Brickens Sohn Dag verheiratet, einem Einfaltspinsel, der vor einigen Jahren bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen ist. Kara wiederum leidet unter einer Angststörung, die sie mit Tabletten unter Kontrolle zu halten versucht. Die umliegenden Wälder steigern ihre Ängste ins kaum Erträgliche. „Mein Herz ist eine Krähe hoch oben in einem Baum“, sagt sie. „Mal krächzt sie in der Ferne, mal kommt sie näher. Ich schätze, ich wurde so geboren, und trotzdem habe ich mich oft gefragt, warum die Krähe gerade mich ausgewählt hat.“

Lena Nordquist lässt Unni und Kara abwechselnd zu Wort kommen. Jede von ihnen trägt schwer an ihrem Schicksal, doch die Frauen haben unterschiedliche Bewältigungsstrategien gewählt, um ihr Leben in den Griff zu bekommen. Dennoch wählen sie am Ende den gleichen Weg: Sie verlassen „Frieden“, um sich endlich frei zu fühlen.

Was für ein großartiges Buch über zwei Frauenleben, wie sie gegensätzlicher nicht sein könnten.

Petra Pluwatsch

Lina Nordquist: „Mein Herz ist eine Krähe“, dt. von Stefan Pluschkat, Diogenes, 464 Seiten, 25 Euro. E-Book: 21,99 Euro.

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