
Pedro ist verschwunden. Pedro, der 17-jährige Sohn von Cecilia Palacios. Er wolle ein Geschenk für seine Freundin Juana kaufen, hatte er der Mutter erzählt, ehe er in ein nahes Shoppingcenter im Zentrum von Bogota aufbrach. Wenig später erschüttert eine Explosion die Innenstadt der kolumbianischen Hauptstadt.
Erinnerung an Pedros Vater
In einer Damentoilette des Einkaufszentrums ist eine Bombe hochgegangen, es gibt Tote und Verletzte. Und Pedro kehrt nicht zurück von seiner Einkaufstour. Ist er verletzt, womöglich tot? Oder gehört der Soziologiestudent zu den Drahtziehern des verheerenden Terroranschlags, wie die Polizei seiner verzweifelten Mutter einreden will? Für Cecilia Palacios beginnen an diesem 17. Juni 2018 Tage voller Angst, in denen sie tief eintaucht in ihre gemeinsame Zeit mit Pedros Vater Reyo, der noch vor der Geburt des Sohnes zu Tode kam und sie allein zurückließ mit einem ungeborenen Kind.
Melba Escobars kluger Roman „Die Mutter“ erzählt von enttäuschten Erwartungen und den Fallstricken einer übereilt geschlossenen Ehe, von den Freuden und der Last einer allein getragenen Elternschaft, von Lebenslügen und falschen Entscheidungen. Und: Er erzählt von der Gewalt in dem südamerikanischen Land, das auch nach dem Friedensschluss zwischen der kolumbianischen Regierung und der Guerillagruppe FARC/EP im Jahr 2016 nicht zur Ruhe kommt. Wie schon in ihrem 2019 erschienenen Roman „Die Kosmetikerin“ schildert die kolumbianische Journalistin und Schriftstellerin ein politisch gespaltenes Land, das schwer trägt an der Last einer gewaltbesetzten Vergangenheit und Gegenwart.
Keine Hoffnung auf Frieden
„Der Frieden der Reichen ist nicht der Frieden des Volkes“, belehrt Pedro seine Mutter kurz vor seinem Verschwinden. „Wahre Kämpfer sind immer im Krieg.“ Seine Freundin und Gesinnungsgenossin Juana, mit der er in seiner Freizeit in einem der Elendsviertel von Bogota arbeitet, denkt genauso. Die einzig mögliche Opposition gegen das „faschistische System“ in Kolumbien sei ein Krieg, erklärt sie Cecilia Palacios bei einem ersten Treffen nach dem Bombenattentat. „Oder finden Sie es normal, dass es bei uns keine Gewerkschafen gibt? Dass die meisten Beschäftigten wie Vieh für einen miserablen Lohn schuften müssen? Und die Bauern machtlos den Bonzen ausgeliefert sind, die sie nach Lust und Laune ausbeuten?“
Cecilia Palacios hat die Hoffnung auf einen dauerhaften Frieden in ihrem Heimatland ohnehin längst aufgegeben. Sie traut weder den linken noch den rechten Politikern. „Macht korrumpiert alle gleichermaßen“, schleudert sie einem linken Soziologieprofessor entgegen, den sie mitverantwortlich macht für die politische Entwicklung ihres Sohnes. „Sie sind alle dieselbe Scheiße.“
„Du mit deinem Egoismus“
Die Ich-Erzählerin beschäftigen ohnehin ganz andere Fragen. Was hat das Muttersein aus ihr, der Frau mit den wilden Locken und den Karriereplänen, gemacht? Wäre ihr Leben ohne den Sohn anders verlaufen? Und warum hat sie mit 24 Jahren einen Mann wie Reyo geheiratet, einen Macho, der oft tagelang verschwand und nie ein Wort der Entschuldigung fand. „Du mit deinem Egoismus“, beschimpft sie den Toten in einem langen inneren Monolog. „Du, der mich arbeiten gehen ließ, um die monatlichen Kosten zu decken, denn du warst ja lieber tot als angestellt, du, der mich mit seinem gierigen Verlangen andauern belauerte, weshalb ich mich ständig fragte, was ich falsch machte.“
17 Jahre hat sie dem Sohn verschwiegen, wie sein Vater zu Tode kam – ein Familiengeheimnis mit fatalen Folgen. Und auch die Leserinnen und Leser erfahren den Grund für Reyos Ermordung erst auf den letzten Seiten dieses spannenden und vielschichtigen Romans.
Petra Pluwatsch
Melba Escobar: „Die Mutter“, dt. von Sybille Martin, Heyne, 256 Seiten, 12 Euro. E-Book: 9,99 Euro.
