
Es gilt, einen Schatz zu heben. Viele Jahre lagen die „Antillengeschichten“ der Lyrikerin, Autorin und Übersetzerin Hilde Domin (1909-2006) vergessen im Deutschen Literaturarchiv Marbach. Bis Literaturwissenschaftlerin Denise Reimann von der Berliner Humboldt-Universität und Verlegerin und Autorin Carla Swiderski bei einem Besuch in Marbach zufällig auf die acht unveröffentlichten Erzählungen stießen.
„Lebenslustige Annäherungen“
Ihr Entschluss stand schnell fest. Hilde Domins „lebenslustigen Annäherungen an die vielstimmige Wirklichkeit“ hatten ein breites Publikum verdient. So wurden die „Antillengeschichten“, versehen mit zarten, teilweise surrealistisch anmutenden Illustrationen von Ulrike Möltgen, mehr als 70 Jahre nach ihrer Entstehung im Goya Verlag veröffentlicht.
Entstanden sind die heiter-ironischen Erzählungen zwischen 1945 und 1948. Da hieß Hilde Domin, 1909 in Köln geboren, noch Hilde Palm, geborene Löwenstein, und lebte mit ihrem Ehemann, dem Archäologen Erwin Walter Palm, in der Dominikanischen Republik. Dorthin war das jüdische Ehepaar 1940 aus Italien über England und Kanada geflohen, ein Entkommen im letzten Augenblick, das ihnen vermutlich das Leben rettete.
Fluchtort Santo Domingo
Der dominikanische Diktator Rafael Trujillo hatte sein Land für jüdische Flüchtlinge geöffnet und versprochen, 100.000 von ihnen aufzunehmen. Ein vorgeblich humanitärer Akt mit Hintergedanken: Trujillo versprach sich von den Neuankömmlingen aus Europa eine „Aufweißung“ und „rassische Verbesserung“ der vorwiegend dunkelhäutigen Bevölkerung des Inselstaates.
Hilde und Erwin Walter Palm gehörten zu den ersten der rund 800 Juden und Jüdinnen, die sich dauerhaft auf der Insel niederließen. Anders als die Mehrzahl der Einwanderer, die im Küstenörtchen Sosúa auf dem Gelände einer ehemaligen Bananenplantage angesiedelt wurden, lebten sie in der Hauptstadt Ciudad Trujillo, dem heutigen Santo Domingo. Erwin Walter Palm hatte sich im Exil zu einem Experten für Kolonialarchitektur entwickelt und arbeitete an entsprechenden Veröffentlichungen. Hilde übersetzte seine Abhandlungen ins Spanische und hielt sich und ihren Partner mit Deutsch- und Lateinunterricht über Wasser.
Abergläubische Nachbarn, kollernde Puter
In den heißen Sommermonaten zog sie sich häufig in die Berge zurück, wo das Klima angenehm und die Nächte kühl waren. In dieser Zeit entstanden ihre ersten Erzählungen, eben jene acht „Antillengeschichten“, die vom Leben auf dem Land, von abergläubischen Nachbarn, seltsamen Europäern und hartnäckig kollernden Putern erzählen. „Mit Hilfe dieser frühen Erzählungen“, schreibt Margarete von Schwarzkopf in ihrem Nachwort, „hat sich Hilde Domin ihrem Leben in der Fremde angenähert, dank der Sprache als ihrem ureigensten Werkzeug gewagt, das Gefühl der Verlorenheit zu überwinden oder zumindest es anzugreifen.“
Es sind Alltagsbetrachtungen, amüsant und leicht erzählt, dabei von einer gewissen Selbstironie gezeichnet, die einen häufig schmunzeln lässt. Diese Geschichten haben keine Pointe, und die brauchen sie auch nicht. Ruhig fließen sie dahin und gewähren Einblick in die karibische wie die europäische Seele der Protagonistinnen und Protagonisten.
Erfolg als Lyrikerin
Da ist die Köchin Vitalia, die einem Huhn das Gackern weghext und damit endgültig ihren guten Ruf im Dorf verspielt. Da ist das kleine Mädchen, das sich von seinem Bruder ein Bein abhacken lässt, weil ihm angeblich ein neues, goldenes versprochen wurde. Und da ist dieser große, fette Puter mit dem kahlen Hals und der lauten Stimme, der jeden Morgen um sieben Uhr vor dem Fenster der Erzählerin randaliert und das bis dato gute Verhältnis zu Nachbar Don Abelardo gefährdet.
Nach 13 Jahren im Exil kehrten Hilde und Erwin Walter Palm 1953 zurück nach Deutschland, wo Hilde Domin, wie sie sich in Anlehnung an den Namen ihres Gastlandes seit 1954 nannte, bald ihr ersten Gedichtbände veröffentlichte: „Nur eine Rose als Stütze“, „Rückkehr der Schiffe“. Es folgten literaturtheoretische und soziologische Essays. Autobiografische Texte. Ein erster und einziger Roman. Briefe an Erwin Walter Palm über „Die Liebe im Exil“. Allein die „Antillengeschichten“ blieben bis über ihren Tod im Jahr 2006 hinaus unveröffentlicht. Was sich jetzt zum Glück geändert hat.
Petra Pluwatsch
Hilde Domin: „Antillengeschichten“, hrsg. von Denise Reimann und Carla Swiderski, mit Illustrationen von Ulrike Möltgen und einem Nachwort von Margarete von Schwarzkopf, 158 Seiten, 22 Euro. E-Book: 19,99 Euro.

Wie schon oft: Ihren Empfehlungen folge ich gerne. Und fand die „Antillengeschichten“ gleich gestern in unserer Stadtbibliothek Essen! Danke für die Entdeckung. Stutzig macht mich, Hilde Domins früherer Name „Hilde Palm“ ist womöglich ein Häkchen zur Protagonistin Hilla Palm in ihren Werken „Das verborgene Wort „ und „Wir werden erwartet „?
Mit freundlichen Grüßen
Doris Almenara
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Das freut uns sehr,
liebe Doris Almenara!
Hoffentlich haben Sie viel Freude an der Lektüre. Was Hilde Domins Mädchennamen angeht, so findet er sich in Ulla Hahns autobiographischen Romanen wieder. Gut möglich, dass sich Ulla Hahn den Namen bei Hilde Domin „ausgeliehen“ hat.
Bitte, bleiben Sie uns gewogen, und seien Sie herzlich gegrüßt,
Petra Pluwatsch und Martin Oehlen
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