
Das wird „der beste Tag aller Zeiten“. Vater und Tochter gemeinsam auf großer Tour. Ein Spontanaufbruch in den Morgenstunden. Wohin es geht, erfährt Dolly nicht. „Wir erleben ein tolles Abenteuer“, mehr hatte der Vater nicht verraten, als er eilig ein paar Anziehsachen zusammenraffte und Dolly mitsamt ihrem Spielzeugpferd Clemesta ins Auto bugsierte. Die Mutter, so sagte er, sei auf einem Mädels-Wochenende mit Freundin Rita. Kein Grund also, sich Sorgen zu machen.
Vertrauen in das Spielzeugpferd
Damit beginnt ein Roadtrip der besonderen Art, der Dolly und ihren Vater quer durch die Vereinigten Staaten von New York bis nach Texas führt. Täglich legen sie Hunderte von Kilometern zurück. Kaum bleibt Zeit zum Essen. Die Unterkünfte werden mit jeder Nacht schäbiger, Daddys Verhalten immer merkwürdiger. Als er Dolly schließlich die langen Haare abschneidet und sie bittet, sich als Junge auszugeben, kann auch sie die Augen nicht mehr davor verschließen, dass hier etwas ganz und gar nicht stimmt.
Der Südafrikanerin Michelle Sacks ist mit „Was verloren ist“ ein bedrückendes Psychodrama über Schuld, Gewalt und die Macht der Liebe gelungen. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive Dollys, einer neunmalklugen Siebenjährigen mit mehr Fantasie, als ihr guttut. Ihre Vertraute auf dieser Reise ist das Spielzeugpferd Clemesta, unschwer als Dollys Alter Ego und unablässig mahnendes Gewissen auszumachen.
Mommy und der „böse Bär“
Clemesta ist diejenige, die auszusprechen wagt, was Dolly nicht wahrhaben will. Dass Daddy ihr zunehmend Angst macht, dass in ihm der „böse Bär“ wohnt, der Mommy manchmal weh tut, und dass da etwas ist, an das sie sich unbedingt erinnern muss.
Allmählich schält sich aus dem scheinbar naiven Geplapper der Siebenjährigen das Bild eines großen Scheiterns heraus, das, so kann man vermuten, in einer Katastrophe geendet ist. Das ist beklemmend gut gemacht, und mitunter weiß man kaum, mit wem man mehr Mitleid haben soll. Mit Daddy, in dem der böse Bär wohnt, oder mit Dolly, die festhält an einem Vaterbild, das der Realität nicht standhalten kann.
Petra Pluwatsch
Michelle Sacks: „Was verloren ist“, dt. von Judith Schwaab, btb, 302 Seiten, 13 Euro. E-Book: 8,99 Euro.
