Schöner leben auf Kredit: Aus der Druckerei von Honoré de Balzac stammt der satirische Ratgeber „Die Kunst, seine Schulden (nicht) zu begleichen“

Nicht die feine Art: Einem anderen in die Tasche greifen. Foto: Bücheratlas

Die Zeiten sind schlecht. Aber darum muss es einem nicht schlecht gehen. Jedenfalls nicht, wenn es ums Finanzielle geht. Wie man überlebt, ja, wie man sogar ganz gut lebt, wenn man keinen Cent beziehungsweise Sou mehr hat, das erzählt der Ratgeber „Die Kunst, seine Schulden (nicht) zu begleichen“.

Die Quintessenz aller Moral

Das Werk aus dem Jahre 1827 stammt nicht von Honoré de Balzac (1799-1850) selbst, aber ist in der Druckerei in der Pariser Rue des Marais aufgelegt worden, deren Inhaber er zwei Jahre lang war, bis er 1828 Konkurs anmelden musste. Offiziell wird ein Anonymus als Autor dieses „Lehrbuch des Handelsrechts für Bankrotteure, Bittsteller, Aushilfskräfte, Freigestellte und alle insolventen Konsumenten in zehn Lektionen“ ausgewiesen.

Der Anonymus wurde zu dieser Schrift von seinem verstorbenen Onkel (1761-1823) inspiriert, der die Maxime befolgte: „Je mehr Schulden, umso mehr Kredit“. So lebte der Onkel auf dem Fuße eines Mannes, „der 50.000 Livres Jahresrente bekommt, obwohl er niemals Anspruch auf nur einen Sou Einkommen besaß.“ Dem Onkel wird der Aphorismus zugesprochen: „Was die anderen in der Tasche haben, wäre besser in der meinen! Weg da, damit ich dahin kann! Das ist kurz und bündig die Quintessenz aller Moral.“

„Fakten für falsch erklärt“

Der Band präsentiert zahlreiche Verhaltensregeln im Umgang mit Gläubigern. Dass sich bei der Lektüre gelegentlich der Eindruck einstellt, selbst ein ehemaliger US-Präsident könnte sich beim Anonymus ein paar Tipps geholt haben, ist natürlich Unsinn, aber ein verblüffender Unsinn.

Denn so lesen wir in dem fast 200 Jahre alten Werk: „Souveränität beruht vor allem darauf, dass man alles, was einem als Argumentation oder Frage erscheint, unbeantwortet lässt, das Offenkundige in Abrede stellt, das Unmögliche behauptet, kurz gesagt, alle Fakten und alles, was nach Beweisen aussieht, kurz und bündig für falsch erklärt. Nein – doch; das ist so – das ist nicht so; unmöglich – möglich.“ Okay, dass man mit dieser Methode und einer solchen Moral auch im Gefängnis landen kann, wird in der Fibel nicht verschwiegen.

„Die Pflaumensaison hat begonnen“

Andreas Mayer führt im Nachwort aus, was Honoré de Balzac – der zum Zeitpunkt der Drucklegung eben noch nicht der berühmte Autor der „Menschlichen Komödie“ war, sondern Verleger – an dem Stoff gereizt haben könnte. So habe Balzac zwar zur nächtlichen Schreibarbeit eine Mönchskutte angelegt, aber ansonsten derart verschwenderisch gelebt, dass seine Schulden legendär waren. Sehr schön der Hinweis, dass Balzac vor seinen Gläubigern aus Paris geflohen sei und sich außerhalb der Stadt als Witwe Durand ausgegeben habe. Wer zu ihm vorgelassen werden wollte, habe erst dem Portier ein Passwort sagen müssen („Die Pflaumensaison hat begonnen“), dann dem Domestiken an der Pforte („Ich bringe die belgischen Spitzen“) und endlich dem Kammerdiener („Madame Bertrand ist bei bester Gesundheit“).

Dennoch ist nicht Balzac selbst der Autor – wir sagten es schon zweimal. Vielmehr hat sich der mit ihm befreundete Schriftsteller Emile Marco de Saint-Hilaire (1796-1877) in höherem Alter dazu bekannt. „Die Spaltung des Gemeinwesens in zwei Klassen, die der Bevorteilten und der Benachteiligten“, so sagt es Andreas Mayer im Nachwort, „ist bereits Anfang der 1820er Jahre ein Gemeinplatz der satirischen Literatur.“ Das „Leben auf Kredit“ nimmt Bezug auf die Verschuldung des Staates – je höher diese sei, desto größer das Ansehen. Man sieht schon: Die kleine Schrift ist nicht nur amüsant, sondern auch von einiger Aktualität.

Martin Oehlen

Anonymus: „Die Kunst, seine Schulden (nicht) zu begleichen“, ein Ratgeber aus der Druckerei von Honoré de Balzac, dt. von Ulrich Esser-Simon, mit einem Nachwort von Andreas Mayer, Friedenauer Presse, 154 Seiten, 20 Euro.

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