Mitten unter uns: Peter Longerich über den Antisemitismus in Deutschland von der Aufklärung bis heute

An die Opfer des Holocaust erinnert Gunter Demnig (rechts) mit seinen „Stolpersteinen“, einem einzigartigen internationalen Mahnmal. Hier ist der Künstler bei einer Verlegung im Oktober 2020 in Köln zu sehen. Foto: Bücheratlas

Johann Gottlieb Fichte schäumte. In der Debatte um mehr Bürgerrechte für die Juden, ausgelöst durch die Forderungen der Aufklärung in Frankreich, meldete sich der Philosoph im Jahre 1793 zu Wort: „Ihnen Bürgerrechte zu geben, dazu sehe ich wenigstens kein Mittel, als das, in einer Nacht ihnen alle Köpfe abzuschneiden und andere aufzusetzen, in denen nicht eine jüdische Idee sei. Um uns vor ihnen zu schützen, dazu sehe ich wieder kein ander Mittel, als ihnen ihr gelobtes Land zu erobern, und sie alle dahin zu schicken.“ Bei Immanuel Kant klingt es 1798 nicht aufgeklärter: Die Emanzipation bezeichnet er als den „vergeblichen Plane, dieses Volk in Rücksicht auf den Punkt des Betrugs und der Ehrlichkeit zu moralisieren.“ Zuvor schon hatte Johann Gottfried Herder „das Volk Gottes“ als „parasitische Pflanze auf den Stämmen anderer Nationen“ verleumdet: „ein Geschlecht schlauer Unterhändler beinah auf der gesamten Erde, das trotz aller Unterdrückung nirgend sich nach eigener Ehre und Wohnung nirgend nach einem Vaterlande sehnet.“

„Chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit“

Mit diesem dumpfen Dreiklang deutscher Denker eröffnet Peter Longerich seinen Gang durch die Geschichte des Antisemitismus in Deutschland von der Aufklärung bis heute. Geprägt wurde der Begriff Antisemitismus, lesen wir in der Untersuchung, in den 1870er Jahren. Dessen „chamäleonhafte Wandlungsfähigkeit“ wird detailliert herausgearbeitet. Die Gründe für die Judenfeindschaft wandeln sich mit dem Wechsel der Zeiten. Das Spektrum reicht von der religiösen Differenz bis zum nackten Rassismus.

Longerich schildert die Entwicklung materialreich, aber nicht erdrückend. Zu den Gestalten, die da Erwähnung finden, gehört der Autor Julius Langbehn. Der war bis zur Veröffentlichung seiner Schrift „Rembrandt als Erzieher“ so unbekannt wie er es heute wieder ist. Doch 1890 traf er mit seinen antisemitischen Einlassungen einen Nerv der Zeit. Innerhalb von drei Jahren erlebte das Buch „sensationelle 43 Auflagen“. Dabei nutzte Langbehn die eine oder andere Auflage, um seine Meinung zu radikalisieren: „Ein Jude kann so wenig zu einem Deutschen werden wie eine Pflaume zu einem Apfel werden kann“ – zumal wenn die auf den Apfelbaum gepfropfte Pflaum den „Wurmfraß “ mitbringe.

„Endlösung“ war „ein offenes Geheimnis“

Die Judenfeindschaft kulminierte im Vernichtungs-Wahnsinn des Nationalsozialismus. Was wusste die Allgemeinheit davon? Am Holocaust „waren aktiv mehrere Hunderttausend Deutsche beteiligt“, schreibt Longerich – darunter Kommunalbeamte, Polizei, Eisenbahner, Gestapo, Wehrmachtsangehörige und Wachmannschaften in den KZ. Die „Endlösung“ war also „ein offenes Geheimnis“. Das Regime konnte nicht auf die Zustimmung einer Mehrheit in der Bevölkerung rechnen, meint Longerich. Doch die antijüdischen Maßnahmen betrafen „für die meisten Menschen nicht den Kern der eigenen Existenz und waren kein Grund, sich durch offene Ablehnung zu exponieren.“ Es gab demnach eine „breite Grauzone des Nicht-wissen-wollens, bewussten Verdrängens und Sich-selbst-Belügens“.

Peter Longerich, der am Royal Holloway College der Universität London und an der Universität der Bundeswehr in München Geschichte lehrte, konnte bei dieser Untersuchung auf vorangegangene Veröffentlichungen aufbauen. Von ihm stammen Werke wie „Davon haben wir nichts gewusst – Die Deutschen und die Judenverfolgung“ oder „Wannseekonferenz – Der Weg zur ‚Endlösung‘“. Auch hat er Biografien zu Hitler, Goebbels und Himmler vorgelegt.

„Anscheinend unausrottbar“

Seine neue Publikation wirkt wie eine Summa. In „Antisemitismus“ schildert der Autor mit souveränem Schwung die großen Linien. Dabei bestechen Klarheit der Begrifflichkeit und kritische Hartnäckigkeit der Untersuchung. Dass man diesem Werk eine hohe Aktualität bescheinigen kann, zeichnet es einerseits aus. Andererseits ist diese Feststellung erschreckend.

Erschreckend deshalb, weil 70 Jahre nach dem Holocaust, nach all der „Aufklärung, Abwehr und Repression“, noch immer Judenfeindschaft in unserer Gesellschaft anzutreffen ist. Der Anschlag auf die Synagoge von Halle im Jahre 2019 ist dafür ein besonders eklatantes Beispiel. Aber es finden sich viele weitere Spuren in politischen Debatten, im enthemmten Internet und in der sich wandelnden Gesellschaft. Peter Longerich schreibt: Der Antisemitismus ist „mitten unter uns und anscheinend unausrottbar.“ Ja, einiges spreche dafür, dass dieses Phänomen „an Bedeutung zunimmt“.

Martin Oehlen

Peter Longerich: „Antisemitismus: Eine deutsche Geschichte – Von der Aufklärung bis heute“, Siedler, 640 Seiten, 34 Euro. E-Book: 29,99 Euro.

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