Konrad Schnittweg wird verdächtigt: Guy Helmingers starker Roman „Lärm“ versammelt die schillernden Bruchstücke eines Lebens

Am Decksteiner Weiher in Köln lernte Silke Bracht im Jahre 1975 Konrad Schnittweg kennen. Ihre Ehe hielt allerdings nicht ewig.  Foto: Bücheratlas

Konrad Schnittweg ist verschwunden – und niemand weiß, aus welchem Grund und mit welchem Ziel. Gleichwohl steht der Psychotherapeut (1951 geboren, verheiratet, zwei Kinder) sogleich unter Verdacht. Einige Beobachter halten es für möglich, dass er Verfasser eines anonymen Briefes ist, der als Ankündigung eines politischen Attentats gelesen werden kann. Ja, schon werden „Schwarze Zellen“ als Wiedergänger der RAF vermutet. Andere sind hingegen der Ansicht, dass Schnittweg die Friedfertigkeit in Person sei und lediglich eine Auszeit nehme. Was aber ist die Wahrheit?

Radikalisierung der Gesellschaft

Guy Helmingers Roman „Lärm“ schildert auf originelle Weise den Lebensweg des Konrad Schnittweg. Da geht es von der Kindheit in der Eifel über die Dienstzeit bei der Bundeswehr bis zur Berufsausübung in Köln – und natürlich zum plötzlichen Verschwinden. Exkursionen führen zu Abgründen im Kongo und in Chile. Außerdem macht der Roman eine Stippvisite in Indien. Schließlich sind als Handlungsorte auch Köln-Hahnwald und Köln-Chorweiler dabei.

Allerlei Themen werden unterwegs erörtert – aus dem Privaten (Freundschaft, Ehe) wie aus dem Politischen (Neoliberalismus, Flüchtlinge). Nicht zuletzt und durchaus aktuell wird die Radikalisierung der gesellschaftlichen Auseinandersetzung diskutiert: Darf Gewalt jemals ein Mittel des Protests sein? Es steckt – um es kurz zu machen – viel drin in diesem Plot.

Es ist alles miteinander verbunden

Allerdings ist dann doch das Formprinzip der Clou der Komposition. Denn wie hier die unterschiedlichen Stimmen arrangiert werden, ist gewitzt geglückt. Das fängt damit an, dass Guy Helminger einen Autor ins Spiel bringt, der zufälligerweise ebenfalls Guy Helminger heißt und sich in Vor- und Nachwort und auch zwischendurch zu erkennen gibt.

Dieser Autor sammelt alles, was ihm zu Augen und Ohren kommt. Wir lesen Monologe, Tagebuchaufzeichnungen, Zeitungsartikel, Romanfragmente, Protokolle, Abschriften von Audio-Dateien, Telefonate und Interviews und ganz am Ende auch noch den ominösen Bekenner-Brief. Diese Dokumente sind nicht chronologisch geordnet, sondern offenbar ins Manuskript gelangt, sobald der Autor ihrer habhaft geworden ist. Die vielfachen Verknüpfungen zu entdecken, gehört zum Lesevergnügen. Schon in Guy Helmingers Vorgängerroman „Die Lombardi-Affäre“ (2020) sagt der Held: „Nein, ich glaube nicht, dass alles vorherbestimmt ist. Es ist nur alles miteinander verbunden.“

„Leck mich en der Täsch, hab ich gedacht“

Dass Guy Helminger – also, der wahre Guy Helminger – für jede Textform eine eigene Sprache findet, ist selbstredend attraktiv. Der eloquente Polizist Schnok hat eine schöne Neigung zum Philosophischen, räsoniert über Schuld und freien Willen. Schnittwegs erfrischend forsche Ex-Ehefrau versteht es derweil, andere in ein schlechtes Licht zu rücken, als wäre sie im Trash-TV. Matthias Weber, genannt Matteck, wartet auf mit kölschem Idiom: „Leck mich en der Täsch, hab ich gedacht.“  Und Rieke Schnittweg hat einige Lebensweisheiten im Köcher: „Verständnisvolles Verhalten ist richtig bis zu einem bestimmten Punkt. Darüber hinaus hilft nur, die eigene Person zu verteidigen.“

Wenn dann einige Texte nicht exakt dem entsprechen, was unsereins von ihnen erwartet, ist das auch schon wieder eine doppelbödige Angelegenheit. Dass die Artikel des Journalisten Axel Keider für eine real existierende Tageszeitung völlig ungeeignet sind, wollen wir nicht dem Romanautor anlasten. Vielmehr nehmen wir dies als Hinweis, dass Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Quelle angebracht sind. Das gilt ebenso für die Tagebuchaufzeichnungen des Peter Pleimer, die von einer solch elaborierten Ausführlichkeit sind, dass man annehmen könnte, hier wasche sich einer rein.  

Virtuoser Lärm, schönes Chaos

Ach, all die vielen Stimmen! Wenn eine jede in einer anderen Tonlage daherkommt, klingt der Chor selbstverständlich nicht harmonisch. Dafür ist ein solches Arrangement, jedenfalls wie es hier geboten wird, voller Reiz und Spannung. Sobald wir vernehmen, was ehemalige und gegenwärtige Ehefrauen und Freunde, was Presse und Polizei über den Fall Schnittweg zu sagen haben, wird offenbar: Die Aussagen widersprechen sich aufs Herrlichste. Es ist gleichsam ein virtuoser Lärm, ein schönes Chaos.

Am Ende wird aus den Splittern eines Lebens keine abgerundete Biografie des Konrad Schnittweg. Mit den Worten des Erzählers: „Mir war, als sei dieser Mensch ein Paradebeispiel dafür, dass der Kern des Einzelnen nichts weiter als die Summe vieler Stücke, ja Bruchstücke war.“ Guy Helminger führt vor, was gewiss nicht ganz neu ist, aber hier aufs Schönste exemplifiziert wird: Das Bild, das wir uns von einem Menschen machen, ist immer subjektiv geprägt. „Ehrlich erfunden“ hieß das vor zwei Jahren im Roman „Die Lombardi-Affäre“ (dessen Handlung wie jetzt auch in „Lärm“ anno 2018 beginnt).

Wir erzählen uns Geschichten, die wir für die Wahrheit halten. Manchmal stimmen die Geschichten sogar, manchmal auch nicht.

Martin Oehlen

  • Bonustrack

    Auszug aus dem „Schnok-Archiv“, also den Aufzeichnungen der Aussagen des Polizeibeamten Gerd Schnok:

    „Auf meinen Roman sei er, Schnok, bereits sehr gespannt, unter anderem auch, weil er davon ausgehe, dass Schriftsteller sich immer für ein aufklärerisches Ende entschieden, da der Leser sich ansonsten unbefriedigt zurückgelassen fühle. Er selbst hingegen müsse von Berufs wegen gerade die Offenheit befürworten, wenn das Ende sich nicht zu hundert Prozent anbiete.“

Auf diesem Blog

findet sich eine Besprechung von Guy Helmingers vorangegangenem Roman „Die Lombardi-Affäre“ – und zwar HIER.

Lesung mit Guy Helminger

an diesem Dienstag, 8. Februar 2022, um 19.30 Uhr im Literaturhaus Köln.

Guy Helminger: „Lärm“, Capybara Books, 328 Seiten, 23 Euro.

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