
Paul Nizon notiert am 1. Februar 2015 an seinem Wohnsitz in Paris: „Manchmal in Panik im Hinblick auf mögliche Hinfälligkeit und Hilfsbedürftigkeit, was das Einsamkeitsgefühl erheblich steigert. Dann wieder das Gefühl des Ungeliebtseins und ein Bedürfnis nach Zärtlichkeit wie nach Opfergaben.“ Solche „Altersschrecken“ teilt der 1929 in Bern geborene Schriftsteller gewiss mit vielen Menschen. Allerdings weiß er einen Weg, damit umzugehen: „Muss das mit Schreibanstrengungen auszugleichen, zu dämpfen versuchen.“ Jüngstes Ergebnis dieser Anstrengung ist das mittlerweile sechste Journal, das er unter dem Titel „Der Nagel im Kopf“ vorlegt.
„Sonst alles für die Katz“
Das literarische Tagebuch umfasst diesmal die Spanne 2011 bis Sommer 2020. Genauer gesagt: bis zur Vorführung eines Dokumentarfilms über Nizon, der ebenfalls den Titel „Der Nagel im Kopf“ trägt. Das Buch bietet erneut eine selbstbewusste Fokussierung auf die eigene Person. Die Erwähnung von auffindbarem Lob zu Leben und Werk ploppt regelmäßig auf – sei es der „Triumpf meiner Literatur“ oder „das aufkeimende neue Interesse an mir“. Allerdings plagt die Sorge um den Nachruhm. „Sicherlich bin ich aus der deutschsprachigen Literatur nicht mehr wegzudenken“, schreibt er. Aber was bleibe nach dem Ableben? Er habe ja keine Skandale geliefert wie Thomas Bernhard, keine „Jahrhundertvermächtnisse“ wie Peter Handke. Mit der Antwort auf die Frage des literarischen Überlebens sei sein ganzer Anspruch und Antrieb verbunden – „so als wäre Überleben das einzige literarische Kriterium für Güte, Größe, Schönheit, BEDEUTUNG.“ Das Überleben sei sein Lebenssinn. „Sonst alles für die Katz.“
Ungewöhnlich intensiv ist in diesem Journal – darauf verweist Herausgeber Wend Kässens im Nachwort – die Hinwendung zum Autobiographischen. Zum Haus in Bern, dem „Heimwehhaus“ mit den Röcken, die „für benommenen Sinne und die ganze Verwirrung“ sorgten. Überhaupt zu den Frauen: „Was war ich (damals) frauenhörig, süchtig, läufig, untreu.“ Und vor allem zu der großen Leerstelle, die ihm im hohen Alter besonders intensiv bewusst zu werden scheint: Den Vater, der aus Riga in die Schweiz emigriert und der vom jüdischen zum christlichen Glauben konvertiert war, hat er kaum gekannt. Als er starb, war Paul Nizon zwölf Jahre alt. Das ist so ein „Nagel im Kopf“. Einer von mehreren Nägeln.
„Nur diese Schreibpassion in den Fingern“
Viel ist von der Kunst die Rede, dem „Schlüssel zum Leben“. Vor allem von der eigenen „einwärts“ gerichteten Literatur. Er sei „ein unverbesserlicher Tagebuchschreiber und Ich-Chronist“. Den Ablauf der alltäglichen Dinge, aus welchem sich Leben zusammensetze, finde er „aufregend wie das Trottoir“. Das Journalschreiben entspreche dem Postulat aus „Canto“, dem in Rom situierten Frühwerk von 1963, das er selbst „vulkanisch“ nennt: „kein Engagement, kein Thema, keine Fabel etc., nur diese Schreibpassion in den Fingern.“
Ein anderer Rom-Roman ist Fragment geblieben. Nun blitzt er im Journal ein ums andere Mal auf. Im Zentrum steht dabei Maria aus Rom. Er hatte sie in einer Nachtbar kennengelernt, nachdem er verstört aus dem Kino gekommen war, wo er einen Film über den Holocaust gesehen hatte. Auch das Maria-Erlebnis ist ein Nagel im Kopf.
Paul Nizon schont sich nicht. Scheinbar beiläufig, aber unübersehbar der Hinweis, als Vater ein „Versager“ gewesen zu sein. Und woher kommt sein Hochmut und sein Dünkel? Das fragt er sich im Jahre 2014. Eine frühe Mangelerfahrung hält er für möglich. Eine solche, die ihn wie seine Schwester geprägt haben könnte: „Mussten Schwester und ich uns als unvergleichlich deklarieren, weil wir im bernisch-normalen Sinne nichts galten?“
„Dann komm mal her“
Alles sehr privat, was im Journal preisgegeben wird, darunter manch Schnurriges. Selbst der Besuch bei der Pediküre ist ihm eine Erwähnung wert. Einen Tolstoi-Tagebuch-Band, den er Ingeborg Bachmann geliehen hatte, hat sie nie zurückgegeben. Formel-I-Rennen verfolgt er mit Leidenschaft. Dem „Großstadtnarr“ kann die Stadt „nie groß genug“ sein. Und vom Dichter als jungem Mann erfahren wir, dass er von einer Reise nach Kalabrien nur „eine dicke Dame“ in „einem billigen Bordell“ in Erinnerung behalten hat. Ihr habe er sich unter dem Namen Pius Eusebius Anselm Rittersporn vorgestellt. „Macht nichts, sagte sie. Dann komm mal her.“
„Das Alter ist des Teufels“, darauf läuft es hinaus. „Es ist die Verengung des Lebensausschnitts, das Schrumpfen der Bühne und auf krasse Weise der Zukunft.“ Das Alter lädt allerdings auch zum Bilanzieren ein. Das gelingt Paul Nizon in diesem Journal in brillantem Stil. Und inhaltlich ergiebig ist die selbstkritische, sich selbst befragende Art. Das Anekdotische ist unterhaltsam, das Existentielle beeindruckend. „Der Nagel im Kopf“ ist ganz und gar nicht „für die Katz“.
Martin Oehlen
Paul Nizon: „Der Nagel im Kopf – Journal 2011-2020“, hrsg. von Wend Kässens, Suhrkamp, 264 Seiten, 26 Euro. E-Book: 21 Euro.

danke, erspart mir das Lesen, bei allem „brillantem Stil“ und „beeindruckendem Existentiellen“ hört sich das doch arg nach den Aufzeichnungen eines eitlen Egos an. lg sv
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Ja, wie gesagt: „Das Buch bietet erneut eine selbstbewusste Fokussierung auf die eigene Person.“ Ein bisschen geht es in dem Journal auch darum, warum das so ist oder sein könnte. Herzlich grüßend und in Vorfreude auf die nächste Stadtwanderung, M. Oe.
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