Islands Frauen, Islands Lyrik: Der Übersetzer Wolfgang Schiffer über den Gedichtband „das kleingedruckte“ von Linda Vilhjálmsdóttir

Linda Vilhjálmsdóttir Foto: Studio Gassi

Der Gedichtband „das kleingedruckte“ der Isländerin Linda Vilhálmsdóttir handelt in kraftvollen Versen von den Frauen Islands – nicht zuletzt von den sogenannten Bergfrauen, die „souverän und unabhängig“ hervortreten. Diese Gedichte sind so klar und frisch wie die Luft auf der Insel (wenn nicht gerade ein Vulkan seine Asche ausspeit). Die Zeilen fügen sich zu einer lyrischen Erzählung aus dem Land der Sagas. Dem Übersetzer Wolfgang Schiffer haben wir einige Fragen zum Buch, zum Land und zum Übersetzen gestellt.  

Herr Schiffer, „das kleingedruckte“ ist der dritte Gedichtband der Isländerin Linda Vilhjálmsdóttir, der auf Deutsch erscheint und bereits der zweite, den Sie mit Jón Thor Gíslason übersetzt haben. Was sind für Sie die besonderen Stärken der Lyrikerin?

Ich beschäftige mich mit den Arbeiten von Linda Vilhjálmsdóttir bereits seit ihrem ersten Gedichtband „Bláþráður / Dünner Faden“ 1990, damals als Mitherausgeber des Bandes „Ich hörte die Farbe Blau“ in der edition die horen. Der dokumentiert das Ergebnis einer Workshop-Begegnung im Künstlerhaus Edenkoben von sechs isländischen Dichterinnen und Dichtern mit sechs deutschsprachigen in der Reihe „Poesie der Nachbarn“. Hier zeugen die Gedichte der Autorin (ebenso wie zunächst folgende) von bedingungsloser Emotionalität, sind provozierende poetische Psychogramme weiblicher und zwischenmenschlicher Befindlichkeit, reißen in ebenso treffsicheren Bildern seelische Zustände auf, wie sie der Beschreibung von Landschaft eine Metaebene geben, die über pure Naturlyrik hinausweist.

Dann jedoch gab es plötzlich ein für viele Jahre anhaltendes literarisches Verstummen der Autorin, das erst 2015 mit dem Gedichtband „frelsi / Freiheit“ ein Ende fand, einer dichterischen Auseinandersetzung mit selbstgewählter Konformität und Zwängen religiöser und politischer Regeln. An ihre dabei vorgenommene kluge poetische Analyse einer unter den verschiedenen Machtinteressen leidenden und zugleich verführbaren Gesellschaft knüpft der jetzige Gedichtband „smáa letrið / das kleingedruckte“ an, dies aber noch dezidierter mit einem Blick auf die Welt aus der Sicht einer Frau. Dabei ist bei aller Bezogenheit auf isländische Geschichte und Gegenwart dieser Blick auf Menschen und die Machtverhältnisse untereinander, insbesondere zwischen Mann und Frau, universell. Es gelingt der Autorin, bei allem sprachlichen Minimalismus einen weiten Kosmos zu öffnen.

Tochter wird nach dem Vater benannt

Der neue Band versammelt Texte, in denen es – wie schon angedeutet – nicht zuletzt um Unterdrückung und Aufbruch der Frauen in Vergangenheit und Gegenwart geht. Ist das ein Thema, das in der aktuellen isländischen Literatur verstärkt vorkommt?

Es ist beständiges Thema des gesellschaftlichen Diskurses in Island und damit natürlich auch der Literatur. Dass es jetzt verstärkt vorkäme, kann ich aus meiner Kenntnis dessen, was im Land publiziert wird, nicht feststellen. Umso mehr aber in der politischen Kultur, wobei man sagen darf, dass Island hier durchaus auf einige Fortschritte in der Gleichstellung von Mann und Frau verweisen kann. Ich erinnere nur daran, dass Island mit Vigdís Finnbogadóttir die erste demokratisch gewählte Staatspräsidentin der Welt hatte, derzeit wieder eine Frau als Premier des Landes tätig ist und seit Jahren ein „Equal Pay“-Gesetz gilt, das heißt für Mann und Frau gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Dennoch ist in einem Land, in dem Frauen anstelle eines Nachnamens – diese gibt es in Island nicht – traditionell als Tochter ihres Vaters benannt sind, noch viel zu tun.

Welche Rolle spielt die Lyrik in Island im Vergleich zum deutschsprachigen Raum?

In Island erscheinen pro Jahr etwa 50 Gedichtbände, und das bei einer Bevölkerung von circa 360.000 Menschen. Umgerechnet auf den deutschsprachigen Raum bedeutete dies, dass hier jährlich an die 15.000 Gedichtbände erscheinen müssten. Natürlich verbietet sich ein solcher Vergleich, und doch macht allein schon ein solches Zahlenspiel deutlich, dass der Lyrik in Island ein deutlich höherer Stellenwert zukommt als hierzulande.

Ein besserer Beleg hierfür ist aber vielleicht der Gedichtband „das kleingedruckte“ selbst. Er enthält als eine Art Präludium einen kleinen Zyklus, der als Auftragsarbeit an die Autorin entstanden ist. Seit Errichtung der isländischen Republik am 17. Juni 1944 ist es Tradition, dass eine Frau im Bergfrauenkleid – die Bergfrau (fjallkonan) ist die weibliche nationale Personifikation Islands und bekanntes Sinnbild in der isländischen Dichtung –, am Nationalfeiertag ein Gedicht vorträgt. Der erwähnte Zyklus ist zu diesem Anlass entstanden und wurde am 17. Juni 2018 auf dem Platz vor dem Parlamentsgebäude von einer Bergfrau gelesen.

All die vielen Wörter für die Natur

Hat das Isländische besondere Herausforderungen, wenn es um die Übersetzung ins Deutsche geht?

Nun, ich glaube, jede Übersetzerin, jeder Übersetzer würde für den Transfer aus der vom ihm gewählten Ursprungssprache ins Deutsche besondere Herausforderungen benennen können. Die Umwandlung eines Textes an sich, insbesondere eines poetischen, in ein Klang- und Sinnsystem, das dem hiesigen Sprachgebrauch entspricht, stellt dabei sicherlich die größte dar.

Das Isländische kennt entschieden mehr Wörter für Naturphänomene als das Deutsche, das ist darüber hinaus eine spezifische Herausforderung, die ich nennen könnte. Auch ist die isländische Sprache aus sich heraus eine stark alliterierende, wobei Alliteration in der traditionellen Poesie Islands – ich erwähne nur den Germanischen Stabreim – eine zentrale Rolle spielt. Hier auch bei zeitgenössischer Lyrik zu unterscheiden, wann Alliteration bewusst als Stilmittel eingesetzt ist und wann nicht, ist nicht immer einfach.

Sie übersetzen die Texte gemeinsam mit dem bildenden Künstler Jón Thor Gíslason. Gibt es da eine besondere Arbeitsteilung? Ist es ein ständiges Vorschlagen und Überprüfen? Oder macht der eine dies und der andere jenes?

Unsere gemeinsame Übersetzungsarbeit ist ein dialogischer Prozess. Dabei finden wir – in der Kombination eines Muttersprachlers einerseits und des „Zielsprachlers“, des Deutschen, wo die Übertragung hinsoll, andererseits – zunächst heraus, was und mit welchen stilistischen Mitteln und aus welcher Perspektive, mit welchem Blick auf die Welt etc. da jemand schreibt. Und wenn das alles dann gefunden ist, gilt es insbesondere für mich, es zu einem großen Teil wieder zurückzustellen und sich die Summe all dessen auf fast schon emphatische Weise zu eigen zu machen.

In welchen Varianten die Zusammenarbeit konkret vonstattengehen kann, dafür ist die aktuelle Übersetzung ein gutes Beispiel. Dem erwähnten Präludium folgen vier Teile. Die meisten davon hat Jón Thor zunächst in eine deutsche Rohfassung gebracht, andere habe ich von Beginn an ins Deutsche übertragen. Und dann sitzen wir zusammen und besprechen jeden Satz und manchmal sogar jedes einzelne Wort, bis wir überzeugt sind, die bestmögliche Fassung gefunden zu haben. Und dies möglichst, ohne als Interpret, der vor allem ich als Übersetzer und Autor in dem Fall ja auch bin, dem Original allzu sehr die eigene literarische Stimme übergestülpt zu haben, sondern bei aller notwendigen Freiheit, die der Prozess einer solchen Transformation erfordert, mit größtmöglichen Respekt für das Original.

Die Frage der Stunde: Wer darf übersetzen?

In Zusammenhang mit der Übersetzung von Amanda Gordons Gedicht zur Amtseinführung von Joe Biden als US-Präsident hat es viele Debatten gegeben. Nun übersetzen sie als Mann die Lyrik einer Frau. Spielt der biographische Hintergrund einer Übersetzerin oder eines Übersetzers demnach keine Rolle?

Diese Frage ist in Island auch der Autorin in ähnlicher Weise bereits gestellt worden. Ob sie es nicht komisch finden würde, dass ihr Gedichte von zwei Männern übersetzt sind. Sie hat geantwortet, dass sie nur auf Verständnis und Rhythmus achte, wenn sie sich Übersetzungen ihrer Gedichte ansehe. Meine Antwort fällt noch kürzer aus: Nein, der biografische Hintergrund einer Übersetzerin oder eines Übersetzers spielt keine Rolle.

Mit dem Elif Verlag, in dem der Band jetzt vorliegt, arbeiten Sie seit geraumer Zeit zusammen. Was schätzen Sie an diesem Verlag vor allem?

Dinçer Güçyeter, den Lyriker und den Verleger des Elif Verlags, und mich verbindet, so haben wir vor einigen Jahren bei einer seiner Lesungen, bei der ich ihn kennenlernen durfte, herausgefunden, ein gemeinsamer Geburtsort: Lobberich, heute ein Teil der Stadt Nettetal am Niederrhein. Als er erfahren hatte, dass ich auch Lyrik geschrieben habe, hat er mich gefragt, ob er etwas sehen, etwas Neues lesen könne. Ich habe passen müssen, was eigene Gedichte betraf, ihm aber Übersetzungen von Jón Thor und mir aus dem Band „Denen zum Trost, die sich in ihrer Gegenwart nicht finden können“ des bis dahin hierzulande völlig unbekannten Isländers Ragnar Helgi Ólafsson gezeigt. Er hat sie gelesen, für gut befunden und 2017 als zweisprachige Edition veröffentlicht.

Der Wagemut, der sich hierin zeigte, ist eine der ganz großen Qualitäten des Verlegers. Er ist neugierig auf Lyrik aus aller Welt, auf Debüts junger Lyrikerinnen und Lyriker hierzulande ebenso wie auf Untergrundstimmen aus der Türkei oder auf die Gedichte eines in mehr als vierzig Sprachen – außer ins Deutsche – übersetzten Norwegers. Verlegerisches ökonomisches Kalkül steht bei seinen Entscheidungen nie im Vordergrund. Er muss von Texten überzeugt sein – und von den Menschen, die sie geschrieben und / oder übersetzt haben. Dabei operiert der Verlag unter seiner Lenkung wie eine schöne Komplizenschaft, in der alle, die etwas beitragen können zum Programm und dessen Verbreitung, sei es durch Lektorat oder Bekanntmachung in sozialen Netzwerken etc., eingebunden sind wie in einer harmonischen Familie.

Die Fragen stellte Martin Oehlen

Linda Vilhjálmsdóttir: „das kleingedruckte“, dt. von Jón Thor Gíslason und Wolfgang Schiffer, Elif Verlag, 110 Seiten, 20 Euro.

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