Edna O’Brien reiste nach Nigeria, um die Geschichte der entführten Schulmädchen zu erzählen

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Foto: Bücheratlas

Eine Nachricht aus Nigeria erschütterte im April 2014 die Welt. 276 Schulmädchen waren aus einem christlichen Internat in Chibok im Nordosten des Landes von der islamistische Terrormiliz Boko Haram verschleppt worden. Monatelang fehlte von den Entführten jede Spur. Sechs Jahre später ist das Schicksal von mehr als 100 der jungen Mädchen noch immer ungeklärt. Lediglich 82 der „Chibok-Girls“ wurden 2017 nach Verhandlungen mit der nigerianischen Regierung von den Terroristen freigelassen, andere konnten schon vorher befreit werden oder aus eigener Kraft fliehen.

Doch wie ergeht es den jungen Frauen nach ihrer Rückkehr in den nigerianischen Alltag? Eine Frage, der Irlands bekannteste Autorin, die inzwischen 89 Jahre alte Edna O’Brien, nachgegangen ist. Drei Jahre lang hat sie für ihren eindrucksvollen Roman „Das Mädchen“ recherchiert und vor Ort mit betroffenen Frauen und deren Unterstützern gesprochen. Zwei mehrwöchige Reisen führten die Autorin 2016 und 2017 nach Nigeria, wo sie von Schicksalen erfuhr, die sie bis heute verfolgen. „Manchmal schrecke ich nachts hoch und denke an die Mädchen und das Schreckliche, was ihnen widerfahren ist“, sagte sie in einem Interview mit einer englischen Zeitung. „Doch ich konnte wieder nach Hause fahren. Die jungen Frauen werden bis an ihr Lebensende mit den Erinnerungen leben müssen.“

Im Zentrum des Romans steht Maryam, eine fleißige Schülerin mit großen Zukunftsplänen, die in jener Aprilnacht 2014 jäh zunichte gemacht werden. Eine Gruppe von Terroristen dringt in den Schlafsaal der Schülerinnen ein. Die verstörten jungen Frauen werden auf Lastwagen verfrachtet und in ein abgelegenes Camp gebracht, wo sie den Brutalitäten der „Gotteskrieger“ ausgeliefert sind. Maryam wird gegen ihren Willen mit einem der Kämpfer verheiratet. Erst Jahre später gelingt ihr gemeinsam mit ihrer kleinen Tochter Babby die Flucht.

Eindringlich schildert Edna O’Brien den Alltag im Camp. Die Mädchen werden brutal misshandelt und vergewaltigt. Manche sterben im Kindbett, andere verlieren den Verstand. Auch Maryams physische wie psychische Gesundheit ist zunehmend in Gefahr. Nachts träumt sie davon, ihren Peinigern die Schädel zu zerschmettern und sie bei lebendigem Leib in kochendes Wasser zu stoßen.

Maryams Leidensweg ist nach ihrer Rückkehr nach Hause nicht zu Ende. In ihrem von Traditionen regierten Heimatdorf gilt die junge Mutter als „Busch-Ehefrau“ und Hure der Terroristen. Eine Tante nimmt ihr Babby, das Kind des Feindes, weg, eine Geistheilerin versucht, der traumatisierten Frau mit Wurzelsaft und rohen Eiern den Teufel auszutreiben.

Edna O’Brien erweist sich in ihrem 19. und vielleicht letzten Roman einmal mehr als eine streitbare Kämpferin für die Sache der Frauen. Bekannt wurde die Bauerntochter aus Westirland Anfang der 1960er Jahre mit der „Country-Girls-Trilogie“, die inspiriert war von ihrer eigenen Biografie. Die drei Romane über junge Frauen auf der Suche nach einem freien, selbstbestimmten Leben lösten im katholischen Irland einen Skandal aus und landeten prompt auf dem Index. Sie werde nackt durch die Straßen gejagt werden, drohte man der Autorin, sollte die es je wagen, wieder in ihr Heimatdorf zurückzukehren.

Auch Maryam nimmt ihre ganze Kraft zusammen, um den Dämonen der Vergangenheit zu entfliehen und ihren eigenen Weg zu finden. Fernab von ihrem Heimatdorf, wo man sie die Vergangenheit nicht vergessen lässt. „Das Mädchen“ ist ein verstörendes, ein wichtiges, ein unbedingt lesenswertes Buch, das von Gewalt und Terror, aber vor allem von der Stärke und dem Lebensmut von Frauen erzählt.

Petra Pluwatsch

http://www.ksta.de

Edna O’Brien: „Das Mädchen“, dt. von Kathrin Razum, Hoffmann und Campe, 254 Seiten, 23 Euro. E-Book 16,99 Euro.

Lesung mit Edna O’Brien:

in Köln im Rahmen der lit.Cologne am Samstag, 14. März, 18 Uhr, Stadthalle Köln-Mülheim, Jan-Wellem-Str. 2.

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2 Gedanken zu “Edna O’Brien reiste nach Nigeria, um die Geschichte der entführten Schulmädchen zu erzählen

  1. Liebe Petra,
    ich habe am Sonntagabend in ttt den Bericht zum Buch gesehen und bin ganz besonders beeindruckt gewesen von der Autorin, die, 89-Jährig, so lebhaft, so engagiert und mutig die Recherchereisen nach Nigeria unternommen und den Roman verfasst hat, auch, damit dieses brutale Verbrechen an den jungen Frauen in Nigeria nicht vergessen wird. Nun bist du auch schon die zweite, die mir durch die feine Besprechung den Roman nachdrücklich auf den Lesezettel setzt. Ich bin noch unentschlossen, ob diese Gewalt ertragen kann. Trotzdem: vielen Dank für die Besprechung, die ja zumindest einen kleinen Einblick gewährt.
    Viele Grüße, Claudia

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