Die preisgekrönte Übersetzerin Ursula Gräfe über Haruki Murakami, Reisbällchen und ihr erstes japanisches Schriftzeichen

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Ursula Gräfe – nicht in Japan, sondern in Frankfurt am Main Foto: Bücheratlas

Frau Gräfe, wie wurde Ihr Interesse für Japan und die japanische Literatur geweckt?

Das kam daher, dass ich gerne eine außereuropäische Philologie studieren wollte. Schon als Kind mochte ich die Geschichten aus fernen Ländern. Für mich sollte die Weltliteratur nicht nur aus europäischen Werken bestehen. Ich habe dann eher zufällig Japanologie studiert. Es hat aber noch sehr lange gedauert, ehe für mich daran zu denken war, ein japanisches Buch im Original zu lesen.

Erinnern Sie sich noch an das erste Schriftzeichen, das Sie gelernt haben?

Ich glaube, das war das Zeichen für Mensch – das besteht aus zwei Strichen.

Gab es zu Ihrer Studienzeit schon so viele Übersetzungen aus dem Japanischen, dass sie sich für diese Literatur begeistern konnten?

Es gab schon einiges. Vor allem die Klassiker – darunter die berühmte „Geschichte vom Prinzen Genji“, die um das Jahr 1000 entstanden ist. Dann aber auch von Yukio Mishima – einem wirklich sehr berühmten Autor, der sich 1970 spektakulär selbst entleibt hat – der große Roman „Der Tempelbrand“, den Walter Donat in den 60er Jahren übersetzt hat. Es war mir nun eine große Freude, dass ich dieses Werk neu übersetzen durfte. Es erscheint demnächst anlässlich von Mishimas 50. Todestag unter dem Titel „Der Goldene Pavillon“ bei Kein & Aber in der Schweiz.

Spiegelt der deutsche Buchmarkt heute die japanische Literatur in angemessener Weise?

Auf jeden Fall gibt es in Japan noch vieles zu entdecken. Das liegt daran, dass es bei uns an den Kapazitäten mangelt. Der Übersetzernachwuchs müsste stärker gefördert werden. Es gibt nicht genügend Menschen, die aus dem Japanischen übersetzen. Das merke ich ja an meiner eigenen Auftragslage, die immer sehr gut ist. Ich schaue auch nach Frankreich und stelle fest, dass dort viel mehr aus dem Japanischen übersetzt wird.

Gleichwohl scheint es so, dass das Interesse an Japan hierzulande in den letzten Jahrzehnten gewachsen ist.

Das ist sicher so. Das hat auch mit der Jugendbewegung des Manga zu tun. Viele junge Leute im Westen kennen sich sehr gut aus mit Mangas und Animes, also den Animationsfilmen aus Japan. Und dann spielt natürlich eine Rolle, dass alles um uns herum globaler wird. Das merke ich auch beim Übersetzen. Bei Lektoren finde ich zunehmend Verständnis dafür, wenn ich japanische Begriffe benutze. Früher musste ich immer von Reisbällchen reden, heute darf ich es bei Onigiri belassen. Das ist für mich eine schöne Entwicklung. Ich habe mein Studium noch begonnen unter dem Eindruck der Fremde. Diese wurde damals stark thematisiert: Vertraute Fremde, fremde Fremde, alles mögliche Fremde. Jetzt hat es sich allmählich mit der Fremde. Das freut mich.

Verstehen Sie Ihren Beruf als Kulturvermittlung?

Auf jeden Fall. Ich denke, das ist eine der Hauptaufgaben von Übersetzerinnen und Übersetzern: Die andere Kultur dem eigenen Sprachraum nahezubringen.

Wo liegt da die besondere Herausforderung?

Die liegt vor allem in der Eigenschaft des Japanischen, sehr implizit zu sein. Wenn Menschen oder Dinge oder Szenen beschrieben werden, dann beruht vieles auf einem stillschweigenden Einvernehmen. Für mich ist dann oft die Frage, wie explizit darf und muss ich das machen, ohne zu stark auszugreifen. In amerikanischen Übersetzungen wird den Lesern sehr viel erklärt. Das habe ich gerade wieder anhand eines Romans festgestellt, den ich selbst fürs nächste Jahr übersetzt habe. Allein schon die erste Passage in der amerikanischen Ausgabe ist von einer solchen poetischen Ausführlichkeit, dass es mir fast wie ein anderes Buch vorkommt.

Können Sie ein Beispiel nennen fürs Implizite im Japanischen?

Da begegnen sich zwei Personen. Die eine Person erzählt der anderen, dass ihr Vater gestorben sei, worauf dann die zweite Person erwidert: „Ah ja, ah ja.“ Und das war’s. Soll ich nun übersetzen: „Es tut mir leid, dass Ihr Vater gestorben ist?“ Oder soll ich es beim „Ah ja, ah ja“ belassen, worüber sich der deutsche Leser wundern könnte.

Nach dem großen japanischen Erdbeben von 2011 waren im Fernsehen Opfer zu sehen, die lächelnd auf die Frage eines Reporters sagten: Ich habe mein Haus verloren.

Das ist eine ähnliche Sache. Ein Japaner weiß selbstverständlich, dass diese Person lächelt, weil sie den Gesprächspartner nicht mit seinem Kummer bedrängen will. Aber bei uns ist so ein Verhalten nicht üblich.

Und wie es mit dem Nein-Sagen?

Es ist tatsächlich so, dass man oft die Aussage, wenn man sie wörtlich auslegen würde, als Zustimmung deuten könnte: Ach ja, naja, ein bisschen… Früher habe ich mich oft gefragt: Kann der jetzt oder kann der nicht? Aber natürlich bedeutet es: Er kann nicht.

Dann gibt es noch die Kniffligkeit, dass die japanischen Schriftzeichen unterschiedlich auslegbar sind.

Das ist richtig. Ich habe zum Beispiel oft die Schwierigkeit, wie man die Eigennamen korrekt ausspricht. Da frage ich dann auch schon mal bei den Autoren nach.

Und ein Autor wie Haruki Murakami, der in fast alle Sprachen übersetzt wird, ist für solche Fragen erreichbar?

Auf jeden Fall. Er ist sehr zugänglich. Er ist ja selber Übersetzer aus dem Englischen.

Fällt es schwer, Murakamis Romane ins Deutsche zu übertragen?

Ganz und gar nicht. Er ist ein Autor, der sich sehr gut übersetzen lässt. Er hat ein Talent, den Leser von Stelle zu Stelle mitzunehmen. Beim Übersetzen ergeht es mir so, dass ich stets neugierig bin, wie es weitergeht. Sein Erzählfluss ist wunderbar. Ich denke, er trifft bei vielen Lesern den Wunsch, für eine Weile abgeschieden und allein zu sein. Da geht es wohl auch darum, sich einmal von den traditionellen Verpflichtungen, von der Familien-Hierarchie zu erholen. Das macht ihn so populär. In Taiwan hat man jetzt sogar ein eigenes Hochschul-Institut eingerichtet, das sich mit seinem Werk befasst.

Haruki Murakami sagt über das Übersetzen, dass es eine „Knochenarbeit“ sei – jedenfalls haben Sie die japanische Vokabel in seinem Essay so übersetzt. Empfinden Sie das auch so?

Na ja. Das ist manchmal der Fall, wenn die Texte sehr lang sind und es sehr viele Sachen nachzuschauen gibt. Bei „In Liebe, Dein Vaterland“ von Ryu Murakami – dem anderen Murakami – war es so, dass ich die Bezeichnungen von sehr vielen Ministerien nachschlagen musste. Und jetzt beim „Goldenen Pavillon“ habe ich unendlich viel recherchiert. Das hätte ich nicht gedacht, weil ja schon viele Übersetzungen vorliegen.

Was unterscheidet Ihre neue Übersetzung von der von Walter Donat aus den 60er Jahren?

Erst einmal Hut ab vor dem Übersetzer Donat, der ohne Internet und ohne unsere modernen Recherchemöglichkeiten auskommen musste. Das war eine Pioniertat. Er hat sehr genau gearbeitet und hat oft gute Lösungen gefunden. Allerdings ist der Sprachstand ein alter. Das hört sich blöd an, wenn ich das sage, aber ich finde, dass die neue Übersetzung schöner und flüssiger ist.

Gibt es eine Passage, auf deren Übersetzung Sie besonders stolz sind?

Ja, im „Goldenen Pavillon“ ist mir eine atmosphärische Passage sehr schwergefallen. Da geht es um einen sich nähernden Taifun und um Insekten, die dort zirpen, wo der Taifun alles zerstören wird. Das Bild ist ganz schlicht, aber erweckt den Eindruck großen Brausens und Splitterns. Ich hoffe, dass ich das in der Übersetzung gemeistert habe.

Sind Sie schon einmal auf eine Vokabel gestoßen, die unübersetzbar ist?

Meiner Meinung nach kann man alles übersetzen. Da muss man dann den Begriff ein wenig umschreiben. Es gibt beispielsweise im Japanischen ein Einzelwort, das in der Übersetzung heißt: Sonnenlicht, das durch Blätterwerk gefiltert wird.

Welches Pensum haben Sie pro Tag?

Meistens versuche ich, zehn Seiten zu übersetzen. Dann kann ich mir auch mal einen Krankheitstag oder Faulheitstag oder Erlebnistag erlauben.

Es gibt von Übersetzerinnen und Übersetzern zuweilen die Klage, dass ihre Arbeit in Deutschland nicht angemessen gewürdigt werde. Wie sehen Sie das?

Ich kenne diese Klage. Persönlich fühle ich mich vollkommen ausreichend gewürdigt. Und das ist sicher auch bei einigen anderen der Fall, die seltene Sprachen oder einen Bestseller-Autor übersetzen. Aber es gibt eben auch Übersetzer, die schwierige Autoren in sehr kleinen Auflagen übersetzen. Die stehen sicher nicht so sehr im Fokus des Interesses. Insgesamt finde ich, dass sich in den 30 Jahren, in denen ich den Beruf ausübe, die Position des Übersetzers sehr verbessert hat.

Ich habe einmal den Hinweis gehört, dass im arabischen Raum die Übersetzer mit dem Autor auf dem Titel erscheinen.

Das ist in Japan ebenso der Fall. Ich könnte mir vorstellen, dass dies in der nächsten Zeit auch in Deutschland geschieht. Immer mehr, finde ich, wird auch in Besprechungen auf die Übersetzung Bezug genommen.

Den Noma-Übersetzerpreis, den Sie jetzt erhalten haben, teilen Sie sich mit Nora Bierich.

Ja, und ich ziehe tausendfach den Hut vor Nora Bierich, die Kenzaburo Oe übersetzt. Das ist so ein schwieriger Autor.

Sie haben Oe 1994, ganz am Anfang Ihrer Karriere übersetzt.

Da habe ich gemerkt, was für eine große Anstrengung das ist. Das war damals der typische Primaballerina-Effekt: Wolfgang E. Schlecht, der ursprüngliche Übersetzer, erkrankte – und da wurde dringend nach einer Zweitbesetzung gesucht. Es war das Jahr, als Oe den Literatur-Nobelpreis erhalten hat.

Und wann bekommt Haruki Murakami den Nobelpreis?

Er steht auf jeden Fall auf der Liste. Aber auch Salman Rushdie ist ein wunderbarer Autor. Oder Michel Houellebecq. Ich kann das nicht vorhersagen. Ich bin nicht das Nobelpreis-Komitee.

Das Gespräch führte Martin Oehlen

Zur Sache

Ursula Gräfe, 1956 in Frankfurt geboren, studierte Japanologie, Anglistik und Amerikanistik an der Universität Frankfurt. Sie übersetzte Werke von Hiromi Kawakami, Yoko Ogawa und Keigo Higashino. Besonders bekannt ist sie für ihre Übersetzungen der Werke von Haruki Murakami, die auf Deutsch im DuMont Buchverlag erscheinen. Soeben wurde Ursula Gräfe in Frankfurt gemeinsam mit Nora Bierich, der Übersetzerin der Werke von Kenzaburo Oe bei S. Fischer, mit dem Noma-Übersetzerpreis geehrt.

Die Auszeichnung – der „Noma Award for the Translation of Japanese Literature“ – hat das Ziel, japanische Kultur im Ausland bekannt zu machen. Er wurde 1989 vom Kodansha-Verlag eingeführt und wird alle zwei Jahre für die besten veröffentlichten Übersetzungen von japanischer Literatur verliehen. In diesem Jahr ging es nur um deutschsprachige Übersetzungen – wie schon in den Jahren 1993 und 1999.

 

 

3 Gedanken zu “Die preisgekrönte Übersetzerin Ursula Gräfe über Haruki Murakami, Reisbällchen und ihr erstes japanisches Schriftzeichen

  1. Das war spannend zu lesen. Welche Herausforderung und welche Kreativität im Übersetzen liegen kann wurde mir zum ersten Mal bewusst, als ich „Meister und Margherita“ in verschiedenen Übersetzungen las.

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